Bei Modistin Viktoriya Sitochina taucht man in die Welt der Hüte ein.

Regine Hendrich

Wien – Geschwommen ist Viktoriya Sitochina in ihrem Leben viel, wirklich viel. Doch seit die gebürtige Russin, die im sowjetischen Sportinternat in Sibirien zum Schwimmteam gehört hatte ("Fürs Tanzen hat man mich nicht genommen"), in Wien-Josefstadt ins kalte Wasser gesprungen ist, ist von Schwimmen in jeglichem Sinne keine Rede mehr. Mit dem Wassersport hat sie seither nichts mehr am Hut, erzählt die 47-Jährige lachend, und Unsicherheiten aller Art, also auch geschäftliche, scheinen ihr fremd zu sein.

Schon kurz nach ihrer Übersiedlung nach Wien hat sie sich als Modistin und Hutmacherin selbstständig gemacht, ein kleinwinziges Geschäft in der Josefstadt aufgesperrt. Nebenbei ging sie servieren, um sich die Miete leisten zu können. Probleme beim Selbstständigmachen, Probleme mit den Behörden habe sie nie gehabt, sagt die Kleinstunternehmerin, die ohne Mitarbeiter auskommt. "Wenn ich selbst etwas falsch mache: okay. Aber wenn wer anderer etwas falsch machen würde bei mir, das ginge gar nicht", erklärt sie das.

In ihrem Geschäft in der Josefstadt hat Sitochina ihr Hutatelier aufgebaut.
Foto: Regine Hendrich

Prüfung zur Modistin

Nach Österreich gekommen war sie quasi als Kindermädchen für den Sohn ihres hierher ausgewanderten Bruders – ihre fünf Jahre dauernde Karriere als Lebensmitteltesterin in Russland hatte sie zuvor recht gern beendet.

In Wien wollte die Frau eines Journalisten eigentlich Textilrestaurierung studieren, landete dann aber in den Werkstätten der Bundestheater – und damit in ihrem wahren Element, wie sich ihrem Gesichtsausdruck beim Erzählen unschwer ablesen lässt. Alle Abteilungen habe sie durchlaufen und letztlich die Prüfung zur Modistin absolviert. Danach hat Sitochina einige Zeit lang als Verkäuferin in einer alteingesessenen Hutmacherei gearbeitet. Eine Art Training: "Setzen Sie einmal jemandem einen Hut auf, der noch nie einen getragen hat. Hüte zu verkaufen ist viel schwieriger, als sie zu machen."

Hochzeitshüte haben es ihr besonders angetan, ebenso Kopfbedeckungen, die dann auf den Bühnen Wiens ihren Auftritt haben.
Regine Hendrich

"Nicht in Schönheit sterben"

Heute verkauft die "berufliche Einzelgängerin" in ihrem nicht mehr ganz so winzigen Geschäft in der Josefstädter Straße so an die 30 bis 40 selbsterzeugte Hüte pro Monat, dazu Kappen, Mützen und auch nicht selbstgemachte Kleidung. Weniger als diese 30 bis 40 Hüte dürfen es nicht sein, erzählt Sitochina, "ich muss Umsatz machen, um meine niedrigen Preise halten zu können. Ich will ja nicht in Schönheit sterben."

Wer in dem kuschligen Geschäftslokal mit seinen vielen Verkaufsobjekten und dem sympathisch-kitischigen Interieur einen Arbeitstisch mit Werkzeug oder Hutstumpen (das sind Hutrohlinge, meist aus Filz oder Stroh) sucht, tut das allerdings vergeblich. An großen Hüten arbeitet Modistin und Hutmacherin Sitochina in einer Art Arbeitswohnung in der Nähe, und für solch große Hüte braucht sie zwischen acht und zwölf Stunden – Trocknen des fertiggestellten Hutes nicht eingerechnet.

Für große Hüte braucht Sitochina bis zu einem Tag für die Herstellung.
Foto: Regine Hendrich

Aussterbendes Gewerbe

Wer in die alte und fast ausgestorbene Welt der Hutmacher eintaucht, und das tut man im Hutsalon Viktoriya, muss auch ein wenig Vokabel lernen. Vom Appretieren ist hier die Rede, also vom Aufbringen jener Mittel, die Hüte steif machen, vom Plattieren (da wird der befeuchtete Hutstumpen über eine Holzform gezogen), vom Krempe und von Schweißband. Alte Begriffe aus einem ausstrebenden Gewerbe: In Wien gab es laut Statistik der Wirtschaftskammer zuletzt fünf aktive Modisten und 18 Hutmacher.

Sitochina fühlt sich mit Althergebrachtem wohl. Jedes Jahr reist sie nach Odessa, wo sie in der alten Werkstatt eines 87-jährigen Schneiders Dinge lernt, "die man nicht mehr lernen kann". Bei ihm habe sie etwa Pikieren gelernt, also eine Nähtechnik, die man für Mantel- und Sakkorevers braucht. Der alte Herr habe Theaterproduktionen wie "Krieg und Frieden" ausgestattet, erzählt seine Praktikantin, die daheim in Wien auch für Theater arbeitet.

Am liebsten aber macht Sitochina: Hochzeitshüte. Die kosten zwischen 260 und 400 Euro, die Arbeit daran versetze sie in größte Aufregung und koste sie oft auch zwei, drei Nächte Schlaf. "Denn", sagt die Frau und lacht dabei herzlich, "an einen schlechten Hut wird sich jeder erinnern."

Kam aber bisher nicht vor. (Renate Graber, 5.1.2018)