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Ein Weltbürger und Meistererzähler: Iwan Turgenjew (1818–1883) als Held eines Gemäldes von Nikolai Dmitrijew-Orenburgski (1879).

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Iwan Turgenjew, "Väter und Söhne". Her ausgegeben und neu übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. € 26,80 / 340 Seiten. München, dtv 2017

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Wien – Zur Mitte des 19. Jahrhunderts wissen sich Russlands Vertreter des Fortschritts ihr Anschauungsmaterial leicht zu beschaffen. In den Jahren der Entstehung von Iwan Turgenjews Väter und Söhne (1862) wurde im Zarenreich die Leibeigenschaft aufgehoben. Progressive Gutsherren verpachteten Land an ihre Bauern. Vielfach waren die Eigentümer in ihrer Rolle als "Farmer" heillos überfordert. Nikolai Kirsanow, einer der titelgebenden Väter, ist so ein liebenswürdiger Fall.

Generalssohn Nikolai gibt als Agronom und Wohltäter die denkbar schlechteste Figur ab. Man sieht die in die Freiheit entlassenen Bauern als bloße Schatten in Turgenjews epochalem Roman, als atmosphärische Störungen vor dem Horizont einer als unumstößlich angesehenen Ordnung. Ein Landwirt zu Pferd quert dann das Bild, auf dem das Laub im Wind der Jahreszeiten wispert.

Knilche und verkrachte Existenzen bevölkern dafür die Salons in den Provinzmetropolen. Schöne, geheimnisumwitterte Witwen lassen sich von übellaunigen Freidenkern den Hof machen, nur um vor den Konsequenzen ihrer eigenen Keckheit zurückzuschrecken.

In dieses ungesunde Reizklima stapft ein vierschrötiger Medizinstudent namens Basarow. Er ist das klassische Beispiel eines charismatischen Grobians. Sich selbst nennt er einen Nihilisten. Für Sitte und Überlieferung hat er nur säuerlichen Spott übrig. Trügerische Allgemeinbegriffe wie die "Wissenschaft" lehnt er mangels Praktikabilität ab.

Tücke des Gifts

Alles an ihm ist grob und widerständig. So kann es nicht ausbleiben, dass Basarow sich Hals über Kopf in die dekadenteste wohlhabende Dame im ganzen Landkreis verliebt. In dieser bürgerlichen Wendung seines Schicksals liegt bereits der Ausgangspunkt für seinen Untergang. Der Vertreter des Fortschritts wird sich beim Öffnen einer Leiche mutwillig mit Gift infizieren, und er wird feststellen, dass das saure Geschäft des Sterbens nicht das geringste Pathos verträgt, auch kein nihilistisches.

Ehe es aber so weit ist und die unabwendbar kleinen Verhältnisse in dem unermesslich großen Land unangetastet bleiben, muss man sich die unerhörte Kunst des realistischen Meistererzählers Turgenjew (1818–1883) neu vor Augen führen. Hemingway nannte den polyglotten Europareisenden sein unerreichbares Vorbild.

Turgenjew hebt sich untypisch ab von den russischen Großdichtern Dostojewski und Tolstoi. Wo die beiden Letztgenannten abstrakte Thesengebäude errichten, da hält sich ihr Kollege an die vorurteilsfreieste Menschenbeobachtung. Turgenjew, der überschwängliche Briefpartner Gustave Flauberts, ist der unbornierteste Chronist seiner Epoche. Es gefällt ihm nicht durchwegs, was er auf den Landgütern zu sehen bekommt. Er verzeichnet die oftmals gerühmte Gutherzigkeit seiner Landsleute. Er zeigt aber auch, dass sich hinter der sprichwörtlichen Duldsamkeit viel Gemütsschlamperei verbirgt. Am wenigsten goutiert er Anwandlungen von Bilderstürmerei. Basarow, sein Held, reist in Begleitung von Arkadi Kirsanow auf das Gut seines alternden Vaters Nikolai. Arkadi himmelt seinen Freund als Rollenmodell an; der Hausherr begegnet dem störrischen Gast mit aufrichtigem Interesse.

Zeit für ein Duell

Nikolai besitzt aber noch einen Bruder, Pawel. Dieser, ein Offizier i. R., opferte einst Karriere und Nerven der unstillbaren Leidenschaft für eine Femme fatale. Die Überreste dieser Luxusexistenz wecken Borsanows Widerspruchsgeist. Turgenjew inszeniert in nuce den Zusammenstoß zweier Geisteshaltungen. Jede von ihnen drückt ein Lebenskonzept aus, eine Art, mit den Unwägbarkeiten einer zweifelhaft gewordenen Existenz fertigzuwerden.

Irgendwann trippelt Pawel in das Zimmer seines Widersachers. Er fordert ihn höflich zum Duell, wobei er seine Hoffnung ausdrückt, sein Gegenüber bei dessen Forschungsarbeiten nicht zu molestieren. Basarow pflegt frühmorgens Kröten und Käfer einzusammeln, um sie aufzuschneiden und unter dem Mikroskop zu betrachten. Man kann nicht sagen, der junge Nihilist wäre in Anschauung des Lurchgedärms zu besonders zukunftsweisenden Ansichten gelangt.

Die neue Übersetzung dieses kleinen, gigantischen Buchs stammt von Ganna-Maria Braungardt und zeichnet sich durch eine schöne, nie forcierte Natürlichkeit des Tons aus. Die Gepflogenheit der Vatersnamensnennung hat sie dankenswerterweise vereinfacht. Dass es "die Großmut" heißt und nicht "der Großmut", soll an dieser Stelle vermerkt sein – und trotzdem kein Wässerchen trüben. (Ronald Pohl, 8.1.2018)