Im neuen Jahresbericht von Freedom House ist die Türkei vom Status "teilweise frei" auf "nicht frei" abgerutscht.

Grafik: Freedom House

Vor dem Staatschef stand er wie ein Pinguin: Kopf und Oberkörper nach vorn gebeugt, die Arme am Körper angelegt und die Handflächen nach hinten gedreht. Ein Bild der Demut. "Böswillig manipuliert", sagte später Zühtü Arslan, der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, nachdem das Bild die Runde durch die sozialen Medien gemacht hatte. Es sei eine Momentaufnahme gewesen, ein einzelner Augenblick bei einem Empfang, an dem der höchste Richter des Landes teilnahm.

Dennoch galt die Aufnahme im Präsidentenpalast in Ankara im vergangenen Jahr bei der offiziellen Feier zum Tag des Sieges, dem 30. August, als ein Zeichen für die Unterordnung der Justiz unter dem allmächtig gewordenen Staatschef Tayyip Erdoğan.

Rechte verletzt

Arslan stellt Beobachter in der Türkei nun erneut vor ein Rätsel. Unter seinem Vorsitz verfügte das Höchstgericht am 11. Jänner die Freilassung der prominenten Journalisten Şahin Alpay und Mehmet Altan aus der Untersuchungshaft. Beiden Journalisten bescheinigten die Verfassungsrichter in einer Mehrheitsentscheidung, dass ihr Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit (Artikel 19 der türkischen Verfassung) sowie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und die Pressefreiheit (Artikel 26 und 28) verletzt worden seien. Es könnte ein Präzedenzurteil für einen großen Teil der derzeit 151 inhaftierten Journalisten in der Türkei sein.

Der 73-jährige Alpay wird seit eineinhalb Jahren ohne Gerichtsurteil in Haft gehalten, Altan – er wurde am 11. Jänner 65 – etwa ebenso lange. Beiden Journalisten wirft die Justiz Terrorismus vor. Mit ihren Artikeln und Äußerungen hätten sie für die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen gearbeitet.

Konflikt bloßgelegt

Dass der Präsidentenpalast sich vor dem Urteil erkundigt hat, wie das Verfassungsgericht in der Causa Alpay/Altan zu entscheiden gedenkt, darf man annehmen. Auch dass die Empörung der türkischen Regierung über die angeordnete Freilassung der beiden Journalisten ernst und nicht gespielt war. Denn anders lässt sich nicht erklären, dass die türkische Führung nun die Umsetzung dieses Urteils blockieren lässt. Seit dem 11. Jänner haben die 13. und 26. Strafkammer in Istanbul, in denen die Verfahren gegen die zwei Journalisten laufen, bereits mehrfach die Entscheidung des Verfassungsgerichts unter Vorsitz von Zühtü Arslan zurückgewiesen und dabei unter anderem von widerrechtlicher Machtanmaßung durch die Höchstrichter gesprochen. Ähnlich äußerte sich Bekir Bozdağ, der Regierungsprecher, Vizeregierungschef und ehemalige Justizminister. Staatschef und Regierung legen damit aber bewusst einen Konflikt bloß zwischen "ihren" Richtern und jenen des Höchstgerichts.

Die Türkei steuert nun in neues politisches Terrain. Diese Verfassungskrise, dargestellt durch den Konflikt zwischen der Exekutive und der Spitze der Judikative, ist gleichwohl eher ein Ausdruck der Übergangsphase von der parlamentarischen Demokratie zum präsidialen Regime, in der das Land seit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 steht. Erst mit der nächsten Wahl von Präsident und Parlament, spätestens im November 2019, treten die weitreichenden Befugnisse für Tayyip Erdoğan auch offiziell in Kraft.

Arslans Rolle

Zühtü Arslans Rolle in diesem Regimewechsel ist dabei nicht ganz klar. Einerseits hat das Verfassungsgericht unter seiner Führung sehr passiv auf die Verhängung des Ausnahmezustands im Juli 2016 und den Beginn von Erdoğans Herrschaft mit Notstandsdekreten reagiert. Einsprüche der Opposition im Parlament gegen die Dekrete wies das Gericht ab. Es hat auch nicht selbst die Initiative ergriffen und das Notstandsregime einer rechtlichen Prüfung unterzogen.

Das Höchstgericht ließ zudem scheinbar ohne große Probleme zwei seiner Mitglieder fallen, die nach dem Putsch als angebliche Gülenisten verdächtigt und inhaftiert wurden. Erdoğan ersetzte sie durch zwei loyale Richter – Recai Akyel und Yusuf Şevki Hakyemez; Akyel war als ehemaliger Chef des Rechnungshofs im Mai 2016 einer der hohen Richter, die bei einem anderen vielkritisierten Fototermin mit Erdoğan dabei waren: Tee-Ernte am Schwarzen Meer.

Dündars Freilassung

Andererseits aber haben Zühtü Arslan und seine Kollegen im Verfassungsgericht im März 2016 – vier Monate vor dem vereitelten Putsch – schon einmal die Freilassung zweier prominenter Journalisten angeordnet und damit wütende Reaktionen von Staatschef und Regierung in Kauf genommen. Damals ging es um den früheren Chefredakteur der Tageszeitung "Cumhuriyet", Can Dündar, und den Bürochef der Zeitung in Ankara, Erdem Gül; Dündar setzte sich später nach Berlin ab.

Arslan selbst war 2012 vom damaligen türkischen Präsidenten Abdullah Gül zum Verfassungsrichter ernannt und drei Jahre später, im Februar 2015, vom Plenum des Gerichts zum Präsidenten gewählt worden. Acht der derzeit noch 17 Mitglieder des türkischen Verfassungsgerichts sind von Gül ernannt worden, Erdoğans langjährigem Weggefährten, mit dem er dieser Tage erst öffentlich brach. Drei weitere Richter kamen noch in der Amtszeit des militärnahen, laizistischen Vorgänger Güls, Ahmet Necdet Sezer, ins Höchstgericht; ihre Mandate enden bald – Osman Alifeyyaz Paksüt wird im November dieses Jahres als erster ausscheiden. Dann wird Erdoğan weitere Richter seines Vertrauens platzieren können. Er hat seit seiner Wahl zum Präsidenten 2014 bereits drei Verfassungsrichter ernannt.

Gülenisten-Hochburg

Der Druck auf den Präsidenten des Verfassungsgerichts dürfte nun aber wieder stark werden. Arslan wird mehr oder minder offen ebenfalls Unterstützung der Gülen-Bewegung vorgeworfen. Das kommt nicht von ungefähr: Von 2009 bis 2012 war Rühtü Arslan Direktor der Nationalen Polizeiakademie in Gölbaşı, am Stadtrand von Ankara. Die galt zu jener Zeit als eine Bastion der Gülenisten.

Die seit einer Woche dauernde Blockade des Verfassungsgerichts zeigt jedenfalls, wie sehr die demokratische Gewaltenteilung in der Türkei mittlerweile aufgeweicht ist. Im neuen Jahresbericht der US-amerikanischen NGO Freedom House ist die Türkei von "teilweise frei" auf "nicht frei" abgerutscht. Für ein Nato-Mitglied und einen EU-Beitrittskandidaten eine beispiellose Wertung. (Markus Bernath, 17.1.2018)