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Ende Dezember wurde im Iran gegen die wirtschaftliche Misere protestiert. Wenig später standen auch Regime und System im Fokus der Kritik.

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Irans religiöser Führer Ali Khamenei macht "ausländische Agenten" für die Proteste verantwortlich. Argumente wie diese würden "in eine Revolution münden", sagt der Menschenrechtler Behrooz Bayat.

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Die Proteste im Iran sind zwar abgeflaut, sie hätten aber gezeigt, dass das Regime weder die Großstädte noch das Land auf seiner Seite habe, sagt der iranische Menschenrechtler und Atomwissenschafter Behrooz Bayat. Selbst wenn die Bewegung unterdrückt werde, würde sie nur wenig später wieder aufkommen, weil die Unzufriedenheit so groß sei. Eine Möglichkeit für das Regime sieht Bayat darin, "klare Signale in Richtung politische Öffnung" zu setzen.

STANDARD: Warum sind die Menschen im Iran auf die Straße gegangen?

Bayat: Dass sich gerade jetzt die Menschen erheben und protestieren, liegt einerseits an der schlechten wirtschaftlichen Situation, andererseits an dem Verlust der Hoffnung auf eine Verbesserung. Viele Menschen sind seit Jahren unzufrieden. Früher hat man aber noch gehofft, durch Reformen das System zu verändern – jetzt herrschen Enttäuschung und Wut über das katastrophale Ausmaß der Korruption, die politische und kulturelle Unfreiheit und die ökonomische Ineffizienz. Es war also zu erwarten, dass die Bürger sich diese Situation nicht gefallen lassen. Es gab auch Anzeichen dafür, dass innerhalb des Regimes Chaos herrscht. Funktionäre haben sich gegenseitig der Korruption bezichtigt. Einerseits weitverbreitete Unzufriedenheit, und auf der anderen Seite ist das Regime selbst ins Wanken geraten. Die Folge ist die Rebellion.

STANDARD: Grund für die Proteste waren zunächst Wirtschaftsprobleme, dann ging es allgemein gegen Politik und Staatsführung.

Bayat: Die Proteste haben zwar mit wirtschaftlichen Forderungen angefangen, sind aber sofort in politische umgeschlagen. Die Menschen haben eingesehen, dass die Ursache für die miserable ökonomische Situation im Politischen liegt. Sofort wurde die Systemfrage gestellt: "Nieder mit dem Diktator, nieder mit Khamenei" wurde skandiert.

STANDARD: Und das obwohl die Proteste ja zunächst von den Hardlinern initiiert worden sein sollen, um Präsident Hassan Rohani und seine Regierung zu demontieren.

Bayat: Die grassierende Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist wie ein Pulverfass, es braucht eine Initialzündung. Die Hardliner haben gehofft, auf dieser Welle der Unzufriedenheit reiten zu können und die Regierung vielleicht zu schwächen. Aber binnen Stunden ging es über die ursprünglichen Absichten der Initiatoren hinaus.

STANDARD: Werden die Proteste weitergehen? Momentan scheint es eher ruhig zu sein.

Bayat: Ich glaube nicht, dass die Bewegung verschwindet. Durch massive Repression könnte sie unterdrückt und zeitweise zum Schweigen gebracht werden, aber die Unzufriedenheit ist so verbreitet, dass wenn sie heute unterdrückt wird, sie sich bald wieder melden wird. Und zwar nicht erst in acht Jahren – die Abstände werden kürzer werden.

STANDARD: Im Gegensatz zu 2009 haben auch auf dem Land viele Menschen demonstriert.

Bayat: Die Proteste in 80 bis 100 unterschiedlich großen Städten im ganzen Land haben gezeigt, dass das Regime weder die Großstädte noch das Land auf seiner Seite hat. In den Großstädten kann man an den Demonstrationen teilnehmen und danach in Anonymität versinken. Auf dem Land ist das nicht möglich. Dass sich so viele Menschen über Tage so massiv exponiert haben, deutet darauf hin, dass sie wissen, ihre Umgebung steht ihnen positiv gegenüber. Indirekt kann man daraus schließen, dass diese Bewegung nur die Spitze eines Eisbergs ist – der größere, ruhigere Teil ist noch unter Wasser.

STANDARD: Welche Schritte könnte die Regierung unternehmen, um den Demonstranten entgegenzukommen?

Bayat: Die Islamische Republik kann nicht so weitermachen. Wenn das Regime so wie der religiöse Führer Ali Khamenei argumentiert und "ausländische Agenten" verantwortlich macht, wird das in einer Revolution münden. Das Regime verfügt nicht über die finanziellen Ressourcen, um die Bürger durch populistische Wohltaten ruhigzustellen. Was das Regime tun könnte, wären klare Signale in Richtung politische Öffnung, um vor allem den jungen Menschen eine Perspektive zu bieten.

STANDARD: Zum Beispiel?

Bayat: Eine Möglichkeit wären Schritte in Richtung einer gesellschaftlichen Lockerung, dass also nicht mehr in jegliche Lebenssituation – vor allem von Frauen und jungen Menschen – eingegriffen wird. Auch eine Erweiterung der politischen Freiheit wäre möglich, dass also etwa Medien, Parteien, Gewerkschaften oder NGOs frei operieren können. Die mächtige Funktion des Wächterrats könnte auch auf jene eines typischen Verfassungsgerichts reduziert werden. Auf ökonomischer Ebene wäre eine Abschaffung der Privilegien der religiösen Stiftungen und der Konglomerate der Revolutionsgarden ein solches Signal.

STANDARD: Wird Khamenei das aber zulassen?

Bayat: Das kann nur Erfolg haben, wenn Khamenei Einsicht zeigt – das kann er nur unter großem Druck. Wenn es um die Existenz der Islamischen Republik ging, haben die Machthaber immer rational gehandelt. Wenn das Regime überleben will, wenn die Administration unter Druck der Umstände nicht mehr funktionsfähig ist, also bevor es zu einem Zerfall des Staates kommt, ist es erforderlich, dass solche Schritte unternommen werden. Khamenei und Rohani sprechen ein bisschen eine andere Sprache. Khamenei spricht von "aus dem Ausland gesteuerten Agenten", Rohani sieht das differenzierter, zumindest in seinen jüngeren Aussagen, in denen er sagt, dass man den Menschen zuhören müsse. Nur: Rohani hat viele solche Phrasen gedroschen, es müssen Taten folgen. Aber diese unterschiedliche Sprache zeigt, dass es womöglich Differenzen innerhalb des Regimes gibt. Es gibt auch eindeutige Hinweise in Richtung der Infragestellung der religiösen Legitimität Khameneis. Seine Legitimität als Staatsmann hat er ja schon längst verloren.

STANDARD: Wer geht aus den Protesten gestärkt und wer geschwächt hervor?

Bayat: Ich bin überzeugt, dass die iranischen Bürger, die mit dem Regime unzufrieden sind, die einen demokratischeren und effizienteren Staat wollen, als Sieger hervorgehen werden. Ob das kurzfristig sofort einen Effekt hat, sei dahingestellt, aber so eine große Bewegung verschwindet nicht spurlos.

STANDARD: Warum sind die Proteste abgeflaut?

Bayat: Ein großes Problem der Bewegung ist, dass sie über keine Führung verfügt. Das Regime hat systematisch jeden Versuch zur Bildung von Menschen, Parteien oder Gruppen, die als Referenzen für die Bewegung dienen könnten, zerschlagen. Der Druck auf der Straße ist außerdem sehr groß, das Regime hat seine Kräfte massiv zusammengezogen. Die Strategie des Regimes ist, extensiv gegen die Proteste vorzugehen, nicht intensiv, etwa mit schweren Waffen, sondern sobald irgendwo eine Ansammlung entsteht, wird sie sofort niedergeschlagen.

STANDARD: Rund 3.700 Menschen wurden einem Parlamentsabgeordneten zufolge bei den Protesten festgenommen – wer sind die Festgenommenen?

Bayat: Es gibt keine Liste mit Namen, niemand weiß es so genau. Man muss von 3.700, wahrscheinlich mehr Menschen ausgehen. Es gibt auch sehr viele Verschollene. Zu einem erheblichen Teil sind es Menschen, die an den Protesten teilgenommen haben. Vor allem in Teheran gibt es aber Hinweise, dass Studenten, die möglicherweise Anführer der Bewegung werden könnten, vorbeugend festgenommen wurden. Besonders schockierend ist, dass fünf und sieben Menschen wahrscheinlich unter Folter vom Regime umgebracht worden sind.

STANDARD: Was können Sie vom Ausland aus tun?

Bayat: Nach dem Abflauen der Proteste besteht die Gefahr, dass das Ganze vergessen wird, etwa das Schicksal der tausenden Verhafteten. Wir wollen die Öffentlichkeit und die Regierungen sensibilisieren, damit sie ihre Stimme gegen Menschenrechtsverletzungen im Iran erheben. Die Führung der Islamischen Republik hat immer wieder gezeigt – auch wenn sie das abstreitet –, dass sie gegenüber dem Druck aus dem Ausland responsiv ist. Wir wollen darauf hinwirken, dass dieser Druck nicht nachlässt. (Noura Maan, 24.1.2018)