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Sechs Captains und ein Pokal: Englands Dylan Hartley (3. von links) und Irlands Rory Best (3. von rechts) haben die besten Aussichten, die Trophäe am 17. März zu stemmen. Auch im Rennen: Wales (Alun Wyn Jones), Frankreich (Guilhem Guirado) und Italien (Sergio Parisse).

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Stiig Gabriel analysiert: "England und Irland werden es sich ausmachen."

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Wien/Cardiff – Die Freunde des gepflegten Ballspiels können ruhig schlafen. Auch 2018 werden Europas beste Rugby-Nationalteams (England, Irland, Wales, Schottland, Frankreich, Italien) nicht auslassen und den Meister der Meister ermitteln. Zu diesem Behufe dient das traditionsreiche Six-Nations-Turnier, welches dieses Jahr von 3. Februar bis 17. März platzfindet (alle Spiele live beim Streamingdienst Dazn).

Wenig überraschend auch, dass daher auch heuer STANDARD-Gewährsmann Stiig Gabriel auf den Plan tritt. Der österreichische Ex-Teamspieler und aktuelle Sportchef bei Abonnementmeister RU Donau Wien erläutert vor dem Start des großen Ringens die Ausgangslage. Immerhin könnte Titelverteidiger England Beispielloses schaffen und zum dritten Mal in Serie siegen. Die Auswahl von Erfolgscoach Eddie Jones, der kürzlich seinen Vertrag bis 2021 verlängert hat, konnte die Herbst-Länderspiele deutlich zu ihren Gunsten entscheiden – doch macht das die Rosen auch zu Topfavoriten?

Für Gabriel mündet diese Frage in einen klassisches Jein. Englands Stärke sei unbestritten, Irland jedoch befindet sich mindestens auf Augenhöhe. Man solle nicht vergessen, dass die Iren es als Einzige zuwege gebracht haben, in den letzten Jahren alle drei Südhemisphären-Größen zu bezwingen. Und: Das Team blieb von Verletzungen weitgehend verschon. Ganz im Unterschied zu den aufstrebenden Schotten übrigens, denen im Sturm eine ganze Erste Reihe abgeht. Das könnte ein großes Problem werden, denn ohne Ball, dessen Eroberung wie Sicherung im Rugby ja ein Kerngeschäft der Forwards darstellt, kann keine Mannschaft dieser Welt ihr Spiel entfalten. Gabriel: "Schottland ein Mitfavorit, daran glaube ich nicht so ganz." Auch deshalb, weil die Neigung der Schotten, im Fall des Falles knapp daneben zu hauen, in der Regel verlässlich einrastet. Irland sei da anders, nämlich wesentlich kaltblütiger.

Jenseits des Hadrianswalls ein Traum

Trotzdem: Dass Schottlands Aufwärtstrend auch im vergangenen Jahr seine Fortsetzung fand, ist unbezweifelbar. Und dies gebiert einen Traum: jenen von so lange entbehrter Glorie nämlich. Als die Schotten letztmals die Meisterschaft holten, schrieb man das Jahr 1999, und die Six Nations waren noch zu fünft. Der herrliche Auftritt beim nur ganz knapp verlorenen Match gegen Weltmeister Neuseeland im November (17:22) ist Ausdruck des Vertrauens, verwegene Gestaltungsansprüche auch gegen Galaktische durchzuhalten. Man hat das so oft tragische Folgen zeitigende Braveheart-Syndrom des niemals das Handtuch werfenden Kämpfertums hinter sich gelassen, setzt konsequent auf die spielerische Karte.

Entsprechendes Personal ist ebenso vorhanden wie der Glaube an die eigenen Fähigkeiten. Und vieles ist ja doch Psychologie: "Du machst bestimmte Dinge einfach mit einer ganz anderen Selbstverständlichkeit, wenn du weißt, dass sie funktionieren", sagt Gabriel. Hilfreich wird sein, dass mit Greig Laidlaw und Stuart Hogg zwei Schlüsselkräfte im Aufbau nach Verletzungen wieder verfügbar sind. Die Schotten, sagt Gabriel, spielen richtiges Rugby. Das hänge auch damit zusammen, dass Glasgow in den letzten Jahren in der internationalen Liga Pro 14 weit oben zu finden war. Nun ist auch Edinburgh nachgezogen.

Europäische Erfahrungen

Die positiven Erfahrungen aus Meisterschaft und Europacup sind für Schottland nach Ansicht Gabriels signifikanter als die negativen für die Engländer. Deren Klubs machen derzeit auf europäischer Ebene nämlich alles andere als gute Figur. Von sieben Vertretern scheiterten im Champions Cup nicht weniger als sechs bereits in der Gruppenphase. Titelverteidiger Saracens FC erreichte als einziger englischer Vertreter das Viertelfinale – und selbst die Londoner mussten als drittbester Gruppenzweiter zittern. Als Mitgrund für die Probleme werden hinter vorgehaltener Hand die vergleichsweise großen Belastungen in der nationalen Meisterschaft genannt. Während die englischen Stars überspielt sind, gelingt es Iren, Schotten und Walisern, ihren besten Männern Ruhepausen zu verschaffen.

Auch England hat Ausfälle zu verkraften. Mit Joe Marler und James Haskell haben sich zwei schwere Burschen durch Sperren nach Ausschlüssen selbst aus dem Kader geschossen, Billy Vunipola, ebenfalls ein Mann der dritten Reihe, blieb das Verletzungspech treu. Die Briten jedoch verfügen am ehesten über die Kadertiefe, um Ausfälle kompensieren zu können. Acht Neulinge hat Jones für das Auftaktspiel in Rom nominiert. Außergewöhnliche Könner jedoch sind auch in Albion nicht im Übermaß vorhanden – England könnte das gewisse Etwas abgehen.

Stillstand und Rückschritt

Ähnliches gilt, allerdings in gravierenderem Ausmaß, für Wales. Dort stagniert man auf einem Level, auf dem man nicht stagnieren will. Nach dem Aufblühen und Altern einer goldenen Generation klappt die Integration von Nachwuchskräften nicht nach Wunsch. Gabriel: "Während etwa die Iren den Generationswechsel recht geschmeidig hinbekommen, kennt man viele Namen seit Jahren." Auch bei der Neuorientierung hin zu einem flüssigeren Lauf- und Kombinationsspiel hakt es. Immerhin scheinen die Waliser ihr Zehnerproblem in Person von Dan Biggar gelöst zu haben. Dem Vernehmen nach ist Boss Warren Gatland die Außenseiterrolle gar nicht unrecht. Zu drei Titeln hat der Neuseeländer die Waliser in seiner langen Amtszeit bereits gecoacht, ein weiterer käme einer Sensation gleich. 2019 wird Gatland Cardiff nach zwölf Jahren verlassen.

Auch Frankreich wird, zumindest nach menschlichem Ermessen, keine Hand an den Siegerpokal legen. Es ist nichts Neues, dass das Flair aus alten Tagen perdu ist – es wurde den Blauen nachhaltig abgewöhnt. Man vertraute auf massenhafte Riegel, praktiziert also die nordeuropäische Manier – und das nicht einmal besonders gut. Herumprobiert wurde zuhauf, auch personell, eine stabile Formation fanden die Franzosen trotzdem nicht. Aufgrund der ungenügenden Resultate wurde Teamchef Guy Novès im Dezember entlassen, nun soll es Jacques Brunel richten. Zu den Irritationen nach der Neuformierung der sportlichen Leitung kommt die Unruhe aufgrund von Ermittlungen gegen Verbandschef Bernard Laporte aufgrund möglicher Freundschaftsdienste zugunsten des Milliardärs und Sponsors Mohed Altrad.

Ein offenes Geheimnis, gültig wie eh und jeh.
Marcopepito

Kern des französischen Problems sind jedoch die Partikularinteressen der Klubs, denen das Schicksal des Nationalteams am Allerwertesten vorbeigeht. Der Enthusiasmus kristallisiert sich traditionell viel eher am Lokalen als am Nationalen. Das ist unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht mehr zu kompensieren. Wird es gelingen, diesen Gordischen Knoten zu durchschlagen? Gabriel: "Wenn Frankreich die Heim-WM 2023 sinnvoll gestalten will, dann muss man sich zügig zusammenraufen. Ja, ich denke, sie werden das hinbekommen." Erste Schritte, um die überbordende Zahl an Legionären in den Kadern der Vereine herunterzuschrauben, wurden immerhin bereits gesetzt. Mit der Zeit sollten sich die Chancen für den heimischen Nachwuchs also verbessern.

Trotz der französischen Krise dürfte Italien der sechste und letzte Platz wieder einmal nicht zu nehmen sein. Die italienischen Franchises in der Pro 14 haben sich zwar deutlich gesteigert, doch das wird nicht ausreichen. Das Gefälle zwischen den zwei Topteams im Land und dem Rest ist riesig. Dass Meister Calvisano im Continental Shield in dieser Saison dreimal gegen die Deutschen vom Heidelberger RK verloren hat, spricht Bände.

Englische Weltherrschaft?

Gabriel verortet die Engstelle beim Überführen der Basis in ein hochstehendes Ausbildungssystem. "Ich nehme an, dass das Akademiewesen im internationalen Vergleich noch hinterherhinkt, denn registrierte Spieler gibt es ja genug. Da liegt Italien in Europa an vierter Stelle. Besonders in England arbeitet man hier vorbildlich. Ich gehe davon aus, dass man nicht zuletzt deshalb innerhalb der kommenden zehn, fünfzehn Jahren Neuseeland abgehängt haben wird." (Michael Robausch, 31.1. 2018)