Kurt Palm (62), Autor und Regisseur. Zuletzt erschien "Strandbadrevolution" bei Deuticke.

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Zwei Jahre vor seinem Tod am 28. Jänner 1868 verfasste Adalbert Stifter das autobiografische Fragment Mein Leben, in dem er das leere Nichts in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellte. Der an schweren Depressionen und an einer Leberzirrhose leidende Dichter sehnte sich in dieser für ihn ausweglosen Situation also nicht nach Gott, sondern nach der sehr weiten Finsternis des Nichts, um dem Horror, der sich Leben nannte, für immer zu entkommen. Man würde es sich aber zu leicht machen, Stifters trübe Gedanken allein dem Alter zuzuschreiben. Denn bereits als Kind erlebte Stifter seine Umwelt als etwas Bedrohliches, Jammervolles, Unleidliches, und er ahnte, dass der Mensch dieser fürchterlichen Wendung der Dinge schutzlos ausgeliefert war.

Als Stifter zwölf Jahre alt war, kam sein Vater bei einem Fuhrwerksunfall ums Leben. Dieser Verlust traf den Jungen so hart, dass er sich daraufhin erhungern wollte. Jahrzehnte später sollte er den entgegengesetzten Weg gehen und sich systematisch zu Tode fressen und saufen. In der körperlichen Blüte seiner Jahre, als er wohl an die 130 Kilogramm gewogen haben dürfte, notierte Stifter, dass er sich wie ein Vulkan fühle, der nicht ausbrechen könne. Am Ende implodierte sein Körper, die Leberzirrhose ließ ihn bis aufs Skelett abmagern.

Kein Dichter der Käfer und Blumen

Stifter, der sich seit frühester Jugend für Naturwissenschaften interessierte, schrieb einmal, dass das Universum ein ungeheurer Raum sei, den der Mensch gar nicht fassen könne. Um angesichts einer solchen Erkenntnis nicht verrückt zu werden, richtete Stifter den Blick von den unendlichen Weiten des Weltalls auf die Erde und entdeckte dabei den Grashalm und das Sandkorn. Erst diese Perspektive ermöglichte ihm die Formulierung des "sanften Gesetzes", das er dem 1852 erschienenen Sammelband Bunte Steine voranstellte – und damit eine falsche Fährte legte. Vermutlich realisierte Stifter bei der Lektüre seiner sechs Erzählungen mit Schrecken, dass es sich dabei um Texte handelte, die Thomas Mann knapp 100 Jahre später zu der Feststellung veranlassen sollten, dass sich Stifters Naturbetrachtung durch eine Neigung zum Exzessiven, Elementar-Katastrophalen und Pathologischen auszeichne.

Mit dem "sanften Gesetz" versuchte Stifter, die seinen Texten immanente pessimistische Weltsicht etwas abzumildern, was ihm insofern gelang, als sich seine Gegner lieber auf dieses Gesetz beriefen, als sich mit düsteren Erzählungen wie Turmalin, Katzensilber, Kalkstein oder Granit auseinanderzusetzen. Hätte Friedrich Hebbel diese Erzählungen tatsächlich gelesen, hätte er Stifter nie als Dichter der Käfer und Butterblumen denunzieren können.

kein Käfer- und Blumenpoet

Wenn Stifter eines nicht war, dann ein biedermeierlicher Käfer- und Blumenpoet. So wie Stifter als Mensch quer zu seiner Zeit stand, wies seine Literatur weit in die Zukunft und steht einem Franz Kafka näher als den literarischen Strömungen des 19. Jahrhunderts. Das ist vermutlich auch einer der Gründe, weshalb sich Stifter in den letzten Lebensjahren immer mehr von seinen Lesern entfernte und sich in einer Welt verschanzte, in der das "sanfte Gesetz" längst vom Gesetz der Selbstbestrafung abgelöst worden war.

Aber auch in dieser Situation behielt Stifters Forscherdrang die Oberhand und trieb seltsame Blüten. So beobachtete er mit der Akribie eines Buchhalters die Reaktionen seines kranken Körpers auf die eingenommenen Speisen und Getränke, und je länger dieser Prozess der Selbstbeobachtung dauerte, desto radikaler wurde Stifter bei der Beschreibung körperlicher Vorgänge. Am Ende schöpfte er sogar aus der Betrachtung der eigenen Fäkalien poetische Kraft. In sein Tagebuch Mein Befinden, das er auf Anweisung seines Hausarztes Dr. Essenwein führte, notierte er am 31. Januar 1865: "Sehr gut erwacht. Frühstück sehr sehr gut. 9 Uhr Stuhl halbfest, dann weich reichlich. Licht mit sehr dunklen Teilen. Mittags große Taube. Schwermut bleibt. Gegen Jause besser. Nach der Jause wieder Unruhe. Abends Suppe sehr sehr gut. Nacht gut (Taube vielleicht an allem Schuld.)" Und die letzte Eintragung vom 10. April 1865 lautet: "Wie vollkommen gesund. Breiartiger Stuhl reichlich."

Zwei Jahre später entstanden die letzten Fotos, die den abgemagerten Dichter als einen Menschen zeigen, dessen leerer Blick sich im Nichts verliert. Auf einem der Bilder trägt Stifter einen Samtrock und verschränkt fast trotzig die Arme, so als wollte er ausdrücken, was er Jahre zuvor an seinen Verleger Gustav Heckenast schrieb: "Ich gebe den Schmerz nicht her, weil ich sonst auch das Göttliche hergeben müsste."

Hüter seines Schmerzes

Stifter wurde zum Hüter seines eigenen Schmerzes, nach dem er sich deshalb so sehnte, weil er ohne ihn den Beruf des Dichters nicht hätte ausüben können. Bei der Lektüre von Stifters Prosa versteht man, welche tiefere Bedeutung das Wort Dichtung überhaupt hat. In diesem Sinn ist Stifters Literatur vielleicht nichts anderes als der Versuch, Leere zu verdichten.

Wie in Stifters Leben, wo Glück und Leid einander bedingten, waren auch in seinem Naturverständnis Harmonie und Zerstörung miteinander verbunden. Vernichtung und Entzücken, Schauer und Erhabenheit, Schmerz und Schönheit: Leitmotivartig ziehen sich diese Ambivalenzen durch Stifters Werk, in dem die Natur ihren unerbittlichen Gesetzen folgt, die auf den Menschen keine Rücksicht nimmt. Gerade in diesem Kontext zeigt sich, dass Stifters Naturschilderungen absolut nichts mit einer harmlosen Idylle zu tun haben. In der Erzählung Kalkstein schreibt Stifter von einem wesenlosen Licht, in Bergkristall von einer blutroten, kalten Sonne und in Katzensilber von der Sonne als blutiger Scheibe.

Und immer wieder sind es Wildnisse, Schlünde, Abgründe, Felsen und stürzende Wasser, die seine Figuren magisch anziehen und vielfältigen Gefahren aussetzen. In den Winterbriefen aus Kirchschlag, geschrieben Anfang 1866, wandte sich Stifter dann konsequenterweise erneut der Betrachtung des leeren Raums zu und rechnete sich aus, dass unser Sonnensystem mit seinen entferntesten Planeten in der Höhlung des Sternes Capella unbeirrt wohnen könnte. Am Ende dieses Gedankenexperiments warteten das schwarze Loch und die Erkenntnis, dass Gegenwehr zwecklos sei: "So steht eine Schönheit vor uns auf, die uns entzückt und schaudern macht, die uns beseligt und vernichtet. Da hat menschliches Denken (...) ein Ende."

Zwei entlaubte Stämme

Stifter machte sich über das Leben keine Illusionen, und es ist kein Zufall, dass er panische Angst davor hatte, sich in Verwirrung das Leben zu nehmen. Als seine 18-jährige Ziehtochter Juliana Suizid beging, war Stifter so geschockt, dass er sich lange aus der Öffentlichkeit zurückzog. Er widmete sich seiner Einsamkeit und seinen Kakteen, seine Frau Amalia schenkte ihre Zuneigung dem Schoßhündchen Putzi. Stifter fasste die deprimierende Situation mit den Worten zusammen: "Wir sind jetzt allein, zwei entlaubte Stämme." Die Panikattacken und Depressionen, die im Alter immer häufiger auftraten, versuchte Stifter mit Alkohol zu bekämpfen, um erkennen zu müssen, dass es keine Hoffnung gab.

In der Nacht vom 25. auf den 26. Jänner 1868 fügte sich Stifter mit dem Rasiermesser eine stark blutende Wunde am Hals zu, die zu einer Ohnmacht führte. Ob es sich dabei um einen Unfall oder um einen Suizidversuch handelte, wissen wir nicht. Bewusstlos und röchelnd lag Stifter noch zwei Tage, ehe er starb. Auf dem Totenbeschauzettel wurde als Todesursache Zehrfieber nach Leberverhärtung angegeben. Stifters Hoffnung auf ein heiteres, gelassenes Sterben hatte sich an diesem 28. Januar 1868 im Haus 1313 an der Donaulände in Linz also nicht erfüllt. Die Rechnung Dr. Karl Essenweins für ärztliche Behandlung, Visiten, Ordinationen, Konsilien und Bemühungen während der Krankheit des Herrn Hofrates Adalbert Stifter belief sich auf 242 Gulden. Amalia Stifter konnte diese Rechnung erst ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes begleichen. (Kurt Palm, 27.1.2018)