Die Vereinten Nationen sehen sich seit längerem mit schweren Vorwürfen gegen Offizielle konfrontiert. Bis jetzt hüllte sich die Weltorganisation in Schweigen. Doch das soll sich ändern.

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Aufsehenerregende Enthüllungen über die Vereinten Nationen: In der Weltorganisation häufen sich nach einem Bericht der britischen Zeitung "Guardian" Fälle von sexuellem Missbrauch an Frauen. Die Vorwürfe reichen von verbalen Belästigungen bis hin zu Vergewaltigungen durch Vorgesetzte und Kollegen.

Als besonders schädlich für die Reputation der UN dürfte sich erweisen, dass sich viele Opfer nicht trauen, die Täter zu melden. Die Kultur des Schweigens sorge dafür, dass Belästiger und Vergewaltiger straffrei ausgehen. Nach dem Erscheinen des brisanten Textes steckten die Vereinten Nationen in Erklärungsnot. Der Sprecher der UN, Stéphane Dujarric, ging schließlich in die Offensive. Die Führung der Weltorganisation wolle unerbittlich gegen sexuellen Missbrauch vorgehen, versprach er in New York.

Zusätzliche Anlaufstelle

UN-Generalsekretär António Guterres verfolge praktisch seit seinem Amtsantritt im Januar 2017 eine "Null-Toleranz-Politik" gegenüber den Tätern. Dujarric betonte: "Es gibt verschiedene Kanäle, formelle und informelle, über die Mitarbeiter Fälle von sexueller Belästigung berichten können." Jetzt wollen die UN eine zusätzliche Anlaufstelle einrichten, eine Opferanwältin wurde ernannt. Und eine Kommission soll eine Strategie erarbeiten, damit die UN besser und schneller auf Fälle reagieren können.

Der "Guardian" befragte in zehn Ländern ehemaliges und derzeitiges Personal mehrerer UN-Organisationen. Darunter befanden sich Mitarbeiter des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, des Entwicklungsprogramms UNDP, des Welternährungsprogramms und Angehörige von Friedensmissionen.

Übergriffe gemeldet

In Interviews sagten 15 Befragte, sie seien in den vergangenen fünf Jahren Opfer von sexuellen Übergriffen gewesen. Mehrere gaben an, dass sie solche auch gemeldet hätten. Personal, das Übergriffe innerhalb der Organisation angezeigt hätte, sei entweder mit Hinauswurf bedroht worden oder habe den Job tatsächlich verloren.

UN-Mitarbeiter in Genf erklärten dem STANDARD, dass ein Melden von Übergriffen tatsächlich problematisch sein könne. "Opfer von sexuellen Übergriffen wissen oft nicht, an wen sie sich wenden sollen", sagte eine Mitarbeiterin, die namentlich nicht genannt werden will. Zwar können sich Frauen und Männer online direkt an die interne Aufsichtsbehörde der UN – das Office of Internal Oversight (OIOS) – wenden. Aus UN-Kreisen ist jedoch zu hören, dass der Weg über das Internet "zu anonym und zu kalt ist". Man wisse nicht, was mit den Daten passiere. Zudem: In dem Guardian-Artikel erheben Befragte Vorwürfe gegen das OIOS, die Behörde arbeite schlampig.

Kurze Verträge

Darüber hinaus spielt das UN-System der kurzfristigen Verträge den Tätern in die Hände. Oft enden die Arbeitsverhältnisse bei den Vereinten Nationen nach wenigen Monaten. Wird eine Mitarbeiterin in dieser Zeitspanne Opfer sexueller Belästigung oder Gewalt, und sie meldet den Fall, dann beginnt die formale Untersuchung nicht selten kurz vor oder nach Beendigung des Arbeitsvertrages. Hat die Beschwerde führende Person die UN-Organisation aber verlassen, verlaufen die Ermittlungen immer wieder einmal im Sand.

Die jetzt aufgetauchten Vorwürfe reihen sich in eine lange Kette von Skandalen bei den Vereinten Nationen. Angehörige von Friedensmissionen vergingen sich an Schutzbedürftigen, und der frühere UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Ruud Lubbers, stolperte über den Vorwurf, er habe eine Mitarbeiterin sexuell belästigt. Diese Fälle dürfte der UN-Sprecher Dujarric wohl auch im Kopf gehabt haben, als er sagte: "Niemand glaubt, dass sich die UN von anderen Organisation unterscheidet – privat oder öffentlich – in denen sexuelle Übergriffe stattfanden." (Jan Dirk Herbermann aus Genf, 20.1.2018)