Englische Ärzte wandten sich mit einem Brandbrief an Premierministerin Theresa May: Das Gesundheitssystem gerate wegen der Grippewelle zusätzlich unter Druck.

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Opel 4 bewegt seit Wochen die Gemüter in britischen Krankenhäusern. Gemeint ist nicht die neueste Luxuslimousine des Chefarztes; der Name der deutschen Automarke steht im Englischen für "Operation Pressure Escalation Level", zeigt also die Auslastung für Mensch und Maschine an. 4 ist der Höchstgrad, auf Deutsch: Alarmstufe Rot.

Ausgerechnet im 70. Jahr seines Bestehens – im Juli soll gefeiert werden – ist das geliebte Nationale Gesundheitssystem (NHS) auf der Insel an seine Grenzen geraten. Winterkrisen gab es immer wieder. Diesmal aber führte eine Grippeepidemie zu einer ungekannten Eskalation. Auf vielen Stationen gibt es nicht genug Betten, vor den Notaufnahmen stauen sich die Krankenwägen, in den Spitälern selbst sterben Patienten auf den Gängen.

55.000 Operationen abgesagt

Allein in England mussten an die 55.000 geplante Operationen abgesagt werden, um mit den Notfällen fertigzuwerden. Zustände "wie in der Dritten Welt" oder "wie in einem Kriegsgebiet" konstatierten aufgebrachte Notfallmediziner. "So schlimm wie derzeit habe ich es noch nicht erlebt", sagt Nick Scriven, Chefarzt im nordenglischen Halifax und Präsident des Berufsverbands der Notfallmediziner.

Nachdem sich vergangene Woche englische Ärzte mit einem Brandbrief an Premierministerin Theresa May gewandt hatten, zogen am Donnerstag die walisischen Kollegen nach: Der Engpass bei Spitalsbetten und Personal würde die Sicherheit der Patienten "in inakzeptabler Weise gefährden". Parlamentsabgeordnete berichteten von Behandlungen in Abstellkammern und auf Korridoren. Die akute Krise gesellt sich zu einer Dauerbelastung: Im Normalfall sollen höchstens 85 Prozent der verfügbaren Krankenhausbetten belegt sein. Seit 2012 liegt das NHS dauerhaft über dieser Zahl.

Neue Steuer im Gespräch

May und ihr Gesundheitsminister Jeremy Hunt haben sich öffentlich entschuldigt. Im Parlament erklärte Hunt, das NHS brauche in den nächsten Jahren "erheblich größere Mittel". Experten wie die Ärztin Sarah Wollaston, die im Unterhaus den Gesundheitsausschuss leitet, haben eine gesonderte NHS-Steuer ins Spiel gebracht. Das wäre eine revolutionäre Neuerung in einem Land, das seine Krankenversorgung beinahe ausschließlich aus dem allgemeinen Steueraufkommen und Sozialversicherungsbeiträgen finanziert.

Im internationalen Vergleich kommen die Briten mit etwa zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das Gesundheitswesen günstig weg. Dafür warten Krebskranke, Herzleidende oder Schlaganfallpatienten wochen- und monatelang auf Termine bei Spezialisten und die nötige Nachsorge. Dass das NHS dennoch hohes Ansehen genießt, liegt vor allem am ehernen Prinzip der Kostenfreiheit: Briten und legal im Land lebende Ausländer erhalten Akutversorgung, ohne Geldbörse oder Versicherungskarte zücken zu müssen.

Bevölkerungswachstum und finanzielle Unterversorgung

Grund für die derzeitige Krise dürfte die jahrelange finanzielle Unterversorgung sein; die mangelnde Koordination zwischen medizinischer Fachbetreuung und der örtlichen Sozialbehörde, die sich um die Pflege kümmert; eine ständig wachsende Bevölkerung, vor allem immer mehr alte Menschen; schließlich auch höhere Ansprüche der Bürger.

Der Brexit tut sein Übriges. Kürzlich stellte Finanzminister Philip Hammond drei Milliarden für unvorhergesehene Ausgaben, die mit dem EU-Austritt in Zusammenhang stehen, in den Haushalt ein. Dabei handelt es sich um genau jene Summe, von der Praktiker sagen, sie würden die akuten Probleme des NHS lösen. Zusätzlich sorgen die knapp 20-prozentige Pfund-Abwertung sowie Berichte über fremdenfeindliche Zwischenfälle dafür, daß sich weniger Ärzte und Krankenschwestern vom Kontinent für eine Arbeit beim NHS interessieren.

Milliardenschwere Reform

Nach der Finanzkrise 2008 verordnete die Regierung dem öffentlichen Sektor einen schmerzhaften Sparkurs, um das horrende Haushaltsdefizit zu senken. Das NHS musste, bei steigenden Ausgaben, eine Nullrunde verkraften; das führte allerorten zu Bettenschließungen. Die Ausgaben für Sozialbetreuung und Pflege daheim schrumpften sogar um bis zu fünf Prozent, und das bei einer wachsenden Bevölkerung und immer mehr gebrechlichen Alten.

Gleichzeitig durchlief das NHS 2012 eine milliardenschwere Reform. Sie übertrug erhebliche Teile der Gesundheitsversorgung örtlichen Konsortien von Hausärzten. Der Reform fiel der Ruf des damaligen Gesundheitsministers Andrew Lansley zum Opfer, nicht aber die vielfältigen Zielvorgaben, mit denen die Regierung die Effizienz des Systems zu messen vorgibt.

"Nicht nur kurzfristige Bewältigung von Winterkrisen"

Häufig stehe das dem Funktionieren der Gesundheitsversorgung insgesamt im Weg, argumentiert Siva Anandaciva von dem Thinktank King's Fund: "Zusammenarbeit und langfristige Ergebnisse sollten wichtiger werden als die kurzfristige Bewältigung von Winterkrisen."

Dafür gibt es bereits vielversprechende Beispiele. In der Grafschaft Surrey südlich von London arbeiten Allgemeinmediziner, Sozialarbeiter und Psychologen seit mehr als einem Jahr zusammen, um unnötige Klinikaufenthalte pflegebedürftiger, aber nicht akut kranker Patienten zu vermeiden. Normalerweise sei jedes Jahr die Zahl der Notfallaufnahmen um acht bis zwölf Prozent gestiegen, berichtet Andrew Morris vom örtlichen Konsortium. "In diesem Jahr blieb der Anstieg aus." (Sebastian Borger aus London, 21.1.2018)