Wien – An Georg Baselitz scheiden sich die Geister. Die einen bewundern das Werk des am 23. Jänner 1938 als Hans-Georg Kern im sächsischen Deutschbaselitz Geborenen, die offenkundige Ästhetik der Brüche und Disharmonien, die sich aus einer latenten Unzufriedenheit des Künstlers nähre und etwaigen Stillstand verhindere. Die anderen monieren einen Themenmangel, das überschaubar gewordene Repertoire ruppig auf die Leinwand geworfener Figuren, die seit Ende der 1960er-Jahre kopfüber ins Bild plumpsen.

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Georg Baselitz im Jänner 2018 vor einem seiner jüngsten Gemälde ("Avignon ade", 2017) in seiner großen Retrospektive in der Fondation Beyeler in Basel
Foto: Reuters/Wiegmann

Die fertigen Bilder werden um 180 Grad gedreht präsentiert. Mit dem Ziel, "das Bild aus diesem schlechten, diesem kompromittierenden Verhältnis zum dargestellten Gegenstand herauszuholen", wie Baselitz erklärt. Ein Kunstgriff, der sich etwas abgenützt hat und dennoch sein Markenzeichen bleiben wird. Die Verehrer schätzen den Aufmüpfigen, der immer schon gegen Autoritäten und Ideologien rebellierte, es trefflich verstand, den "genialen Schweinehund", wie ihn ein Lehrer einst bezeichnete, zu kultivieren. In der Rolle des Provokateurs gefällt sich Baselitz bis heute, wenngleich mittlerweile eher auf verbaler denn auf künstlerischer Ebene.

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Foto: Reuters/Orlowski

Die Documenta bezeichnet er schon mal als "Paralympics" der Kunstwelt. Oder: Es sei Faktum, dass Frauen nicht so gut malen könnten. Eine These, 2013 in einem Spiegel-Interview vorgebracht, der er nicht etwa stilistische oder handwerkliche Kriterien zugrunde legte, sondern die Tatsache, dass Frauen die Markt- und Wertprüfung nicht bestünden.

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"Deutsch ist brutal", auch stilistisch, sagte Georg Baselitz 2011. Der heute 80 Jahre alte Künstler (hier vor "Oberon", 1963, aus der Sammlung des Städel) befand, die deutsche Malerei sei eine Tradition der hässlichen Bilder, von Dürer über Friedrich bis Nolde: "Und meine Bilder – deutscher könnten sie wohl nicht sein."
Foto: dpa/Boris Rössler

Ihre Werke seien günstiger, weil deren Qualität nicht stimme, der teuerste Künstler sei demzufolge einfach der beste. An diesem Maßstab orientiert, hat unter Deutschlands Künstlern Gerhard Richter Baselitz sowieso schon vor Jahren die Show gestohlen.

Der Maler im Dokumentarfilm "Georg Baselitz" von Evelyn Schel
Foto: Thimfilm

Richter hatte sein Studium an der Kunstakademie Dresden absolviert, dort, wo Baselitz 1955 abgelehnt wurde. An der Hochschule für bildende Kunst in Ostberlin folgte nach nur zwei Semestern der Rauswurf wegen "gesellschaftspolitischer Unreife" – eine Standardbegründung für Nonkonformisten, die nicht den sozialistischen Vorstellungen entsprachen. Baselitz ging 18-jährig nach Westberlin und schloss dort ab.

Georg Baselitz 1962 seinem Atelier in Berlin
Foto: Elke Baselitz

Und in Berlin feierte er, wie der in nahezu allen Ausstellungskatalogen publizierte Mythos besagt, bei seiner ersten Soloausstellung den Durchbruch: mit einem Skandal, der, wie sein damaliger Galerist Michael Werner vor einiger Zeit eingestand, inszeniert worden war. Ein Kunstkritiker hatte in einem Artikel lanciert, dass zwei der "Scheußlichkeiten" beschlagnahmt worden wären.

Am Geschlecht abarbeiten

"Die große Nacht im Eimer", in der ersten Fassung Georg Baselitz' (aus der Sammlung des Museum Ludwig in Köln) und 2005 das Remix – farbiger und mit Hitler-Bärtchen noch mehr als Karikatur des Diktators erkennbar.
Foto: Fondation Beyeler, Museum Ludwig

Darunter Die große Nacht im Eimer (1963/63), das einen Zwerg mit zerfetztem Gesicht zeigt, der sich an seinem überdimensionierten erigierten Geschlecht abarbeitet. Eine Art Hitler-Karikatur und Auseinandersetzung der Kriegskinder mit ihren Vätern, ein Fertigwerden mit der Wut und dem Ballast der jüngeren deutschen Geschichte. Zu diesem Zeitpunkt war die Beschlagnahme allerdings eine reine Erfindung, tatsächlich habe die Staatsanwaltschaft laut Werner davon erst aus der Zeitung erfahren. Eine von vielen Anekdoten, die Baselitz' Weg zum deutschen Malerfürsten säumen.

2005, im Alter von 67 Jahren, begann er seine eigenen Bilder, die für ihn dem Schreiben eines Tagebuchs entsprechen, neu zu malen, sie mit neuem Tempo zu beschleunigen. Statt aus dem Kosmos fremder Bilder zu schöpfen, nimmt er sich das eigene Werk als "Remix" vor.

Baselitz bei der Arbeit, 1983
Foto: Daniel Blau, München

65 Exponate dieses Spätwerks nennen die Brüder Viehof (ehedem Besitzer einer Warenhauskette) ihr Eigen. Auf Wunsch von Baselitz sind diese sieben Gemälde und 58 Arbeiten auf Papier seit 2007 (bis 2022) als Dauerleihgabe in der Albertina beheimatet – so sie nicht auf Abruf des Künstlers Gastspiele im internationalen Ausstellungszirkus geben.

Knapp 130 Baselitz-Werke hält die Albertina im Bestand, alles Leihgaben, etwa aus der Sammlung Batliner, jene aus der Sammlung Essl noch gar nicht inkludiert. Eine Sonderpräsentation zum 80. Geburtstag wird es hierzulande trotzdem nicht geben.

Vor Geistern sicher

Baselitz 2007 in seiner Personale in der Albertina vor dem Remix von "Die große Nacht im Eimer" (2005)
Foto: APA/Fohringer

Auch in Salzburg nicht, wo Baselitz offiziell seit 2013 seinen Lebensmittelpunkt hat – der Sicherheit wegen und weil für ihn in Deutschland die "Geister aus dem Dritten Reich" noch immer leben würden, wie er jüngst der Zeit verriet. Dass er 2013 ins Visier deutscher Steuerfahnder geraten war, sei erwähnt. 2015 bekam er vom Salzburger Landeshauptmann Haslauer die Staatsbürgerschaft "für außerordentliche Leistungen" verliehen.


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Foto: AP/Jan Bauer

Weiters lebt und arbeitet Baselitz am Ammersee, an der italienischen Riviera und in Basel, jener Stadt, die per Zufall auch Teil seines Künstlernamens ist. Dort steht ein seinem Achtziger entsprechendes Brimborium auf dem Programm: Das Kunstmuseum zeigt sein zeichnerisches OEuvre, die Fondation Beyeler richtet eine Retrospektive aus (beide bis 29. April), in der auch das einstige "Skandalbild" zu sehen ist und wo man auch einiges aus dem 1979/80 begonnenen bildhauerischen Werk zeigt: klobig-zerklüftete Skulpturen mit Bodenhaftung statt Kopfstand. (Anne Katrin Feßler, Olga Kronsteiner, 23.1.2018)

Georg Baselitz: "Meine neue Mütze", 2013
Foto: Foto: Jochen Littkemann, Berlin