Zwei Abgeordnete, deren Sicht auf die EU unterschiedlicher kaum sein kann: Harald Vilimsky und Othmar Karas.

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Der Angriff auf den Koalitionspartner kam wohlüberlegt, ruhig, unmissverständlich und brutal: "Ich sehe Delegationsleiter Othmar Karas (ÖVP) in absolutem Widerspruch zu seiner Partei agieren", sagte Harald Vilimsky in einem Standard-Interview vergangene Woche am Rande der Plenartagung des Europäischen Parlaments in Straßburg.

Der FPÖ-Generalsekretär ist in zweiter Funktion selbst EU-Abgeordneter und – wie Karas – auch Delegationsleiter von insgesamt vier freiheitlichen Abgeordneten, die alle Mitglieder in der Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) sind.

Diese Fraktion mit aktuell 37 Mandataren gilt bei den anderen Fraktionen nicht nur als EU-skeptisch, sondern als Sammelbecken der "extrem Rechten" (englisch: far right). Dies auch deshalb, weil der französische Front National (FN) unter Parteichefin Marine Le Pen in der ENF mit 17 EU-Abgeordneten den Ton angibt. Der FN-Mann Nicolas Bay war es auch, der Madame Le Pen nach ihrem Wechsel ins französische Parlament im September als ENF-Fraktionschef ablöste. Vilimsky ist sein Stellvertreter.

Die Rechtsfraktion, der auch die Lega aus Italien oder die antimuslimische "Freiheitspartei" von Geert Wilders aus den Niederlanden angehören, steht für einen harten Anti-EU-Kurs. Le Pen ruft regelmäßig zum "Kampf gegen die EU" auf, forderte im Präsidentschaftswahlkampf im Mai 2016 Frankreichs Ausstieg aus dem Euro.

Darum und um die Frage, warum die FPÖ als Regierungspartei weiterhin in dieser isolierten und umstrittenen Fraktion bleibe, wo doch ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz überall betone, wie "proeuropäisch" die neue türkis-blaue Regierung in Wien sei, ging es im Interview. Vilimsky, ein erfahrener Wahlkampfleiter, wies jeden Gedanken zurück, seine Delegation könnte die ENF verlassen. Die FPÖ sei nur EU-kritisch, es gebe keinen Fraktionszwang.

Im Gegenteil, er kündigte unmissverständlich an, dass er und seine Mitstreiter anstrebten, nach den Europawahlen im Mai 2019 eine noch breitere Rechtsfraktion aus den bestehenden drei EU-kritischen Gruppen auf die Beine zu stellen. Karas, der weit über seine Partei hinaus als "Paradeeuropäer" in der Tradition von Alois Mock gilt, dürfte in den Augen von Vilimsky dabei keine Rolle mehr spielen. Er sagte: "Ich glaube, wenn Sebastian Kurz sich durchsetzt, dann wird es bei der nächsten Listenerstellung für die EU-Wahlen eine Änderung geben."

Kampfansage an EVP

Aus Sicht der ÖVP wie ihrer Mutterfraktion, der Europäischen Volkspartei (EVP), klingt das wie eine Kampfansage, nicht nur, weil die EVP per Präsidiumsbeschluss jede Kooperation mit der Le-Pen-Gruppe verbietet. Karas war 2014 Spitzenkandidat, genießt bei Europas Christdemokraten hohes Ansehen. Er zog 1999 ins EU-Parlament ein, dem er seitdem ohne Unterbrechung angehört, war ab 2012 Vizepräsident, Schatzmeister der Gesamtfraktion. Der Niederösterreicher gilt als einer der erfahrensten Abgeordneten, der sich als Fachmann zudem in der Eurokrise profilierte. Und Karas, der wie Kurz als Chef der Jungen ÖVP seine Karriere begann, dann Generalsekretär war, ist vor allem "Proeuropäer". 2009 hat er der ÖVP mehr als 106.000 Vorzugsstimmen gebracht – so viele wie noch kein Politiker zuvor.

Seit dem Angriff von Vilimsky auf ihn rätseln daher viele in der ÖVP, was das zu bedeuten habe; ob Karas auf der Abschussliste von ÖVP-Chef Kurz stehe und nicht mehr Spitzenkandidat sein werde. Auffällig war auch, dass der Delegationschef zwar von den EU-Abgeordneten der ÖVP unterstützt wird; Nachhaltigkeitsministerin Elisabeth Köstinger, seine frühere Stellvertreterin, die er selber aufgebaut hatte, wollte sich im Standard hingegen nicht äußern.

Die Sache ist brisant. Denn auch wenn die EU-Wahlen erst in 16 Monaten stattfinden, bereiten sich alle europäischen Parteifamilien bereits darauf vor, sondieren, wer EU-weite Spitzenkandidaten sein könnten. Es ist fast sicher, dass die Union und das Parlament Ende Mai 2019 politisch völlig verändert dastehen dürften, denn am 29. März 2019 wird Großbritannien die EU verlassen haben.

Viele Abgeordnete fallen weg

Damit fallen nicht nur 73 britische EU-Abgeordnete weg. Es lösen sich in Straßburg zwei andere Rechtsfraktionen auf: die von den konservativen Tories geführte Europa der Konservativen und Reformer (ECR) mit 74 Abgeordneten, der die regierende polnische PiS-Partei angehört. Und die EU-Skeptikerfraktion von Nigel Farage (EFDD) mit 45 Mandataren, zu der die italienische Fünf-Sterne-Bewegung gehört.

Zieht man alle Briten wegen des Brexits ab, könnten gut 100 rechte, EU-kritische bis -skeptische Abgeordnete in einem auf 700 Mandatare verkleinerten EU-Parlament eine neue Heimat suchen, als drittstärkste Fraktion. Die Hoffnung der FPÖ ist, dass sich etwa die ungarische Fidesz von Viktor Orbán und die PiS aus Polen anschließen, ein paar extrem rechte Mandatare sich hingegen verabschieden, die Lega in Italien durch eine Regierungsbeteiligung an Gewicht gewinnt. Dann, so das Kalkül, wäre auch eine gemäßigtere "Le-Pen-2.0-Fraktion" denkbar.

Ein "Herzenseuropäer" wie Karas stünde dem eher im Weg. Es mehren sich daher die Gerüchte, dass der langjährige EU-Abgeordnete 2018 entweder mit einer eigenen Wahlplattform antritt oder gar zu den Neos wechseln könnte. (Thomas Mayer aus Brüssel, 23.1.2018)