Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: family lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

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Frage

Ich benötige dringend Rat, was meine Beziehung anbelangt. Mein Freund und ich sind seit fünf Jahren zusammen. Wir sind beide 24 Jahre alt und lernten uns mit 17 Jahren kennen. Zu dieser Zeit waren wir anfangs beste Freunde, bis sich daraus mehr entwickelt hat. Letzten Herbst haben wir uns verlobt, und jetzt hege ich meine Zweifel.

Vor einem halben Jahr wurde bei mir eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund des Todes meines Vaters festgestellt. Diese Diagnose kam sehr überraschend, denn ich verlor meinen Vater, als ich fünf Jahre alt war. Vor dieser Feststellung habe ich eine Zeitlang Drogen konsumiert. Durch meinen Freund und eine Therapie ist es mir gelungen, nun seit einem Jahr nicht mehr rückfällig zu werden. Die Probleme in unserer Beziehung wurden für mich erst in meiner drogenfreien Zeit sichtbar. Zwar hatte ich bereits früher meine Bedenken, aber nun sehe ich vieles klarer.

Wenig Zeit füreinander

Als Paar fällt es uns schwer, Gemeinsamkeiten zu finden. Ich bin eher der unruhige Typ und gerne aktiv, mein Freund ist gerne zu Hause vor dem Computer oder sieht fern. Es macht mir nichts aus, am Abend gemeinsam Filme anzusehen, aber wenn es darum geht, etwas zu unternehmen, dann wird es schwierig. Manchmal gehen wir Essen, aber danach sofort wieder nach Hause. Ich würde so gerne mal zusammen ins Kino gehen oder mich mit Freunden treffen. Meine Arbeit fordert mich sehr, und oft sind die Tage hektisch, wir haben dadurch wenig Zeit füreinander. Ich würde gerne die Wochenenden dafür nützen, mehr Zeit gemeinsam zu verbringen und zu gestalten. Wenn ich meinen Freund allerdings frage, was er denn gerne am Wochenende machen möchte, so bekomme ich als Antwort meist nur, dass er entweder andere Pläne hat oder lieber vorm Computer sitzt.

Früher war das für mich einfacher zu nehmen, denn ich bin einfach kurz verschwunden und habe Cannabis geraucht. Bis er entdeckt hat, was ich mache. Es folgten viele Auseinandersetzungen und schwierige Situationen, dennoch wurde unsere Beziehung dadurch stärker. Vor einem Jahr haben wir uns gemeinsam eine Wohnung gekauft. Im Moment jedoch bin ich unentwegt enttäuscht. Ich versuche nichts von ihm zu erwarten, wenn es darum geht, miteinander Zeit zu verbringen. Er ist jetzt öfter kurz angebunden, und die Stimmung zu Hause wird zunehmend unangenehm. Obwohl wir uns beide bemühen, funktioniert es nicht.

Selbstzweifel und Ratlosigkeit

So sitze ich nun hier und frage mich, ob ich irgendetwas falsch mache, weil er einfach nicht mehr Zeit mit mir verbringen möchte. Wir haben auch schon versucht, etwas zu finden, das uns beide interessiert, aber es gibt immer wieder neue Argumente dafür, dass es nichts Gemeinsames für uns gibt. So kommt mir der Gedanke, dass ich nicht gut genug für ihn bin, zumal auch unser Liebesleben gar nicht mehr existiert.

Ich weiß, dass er mich liebt, und ich weiß, dass ich mit ihm alt werden will. Aber ich beginne daran zu zweifeln, ob wir es tatsächlich schaffen, zusammenzubleiben. All das tut mir so leid, und ich bin sehr traurig. Ich hoffe, dass Sie mir weiterhelfen können. Gibt es noch Hoffnung für uns?

Antwort

Eines der schwierigsten Unterfangen im Leben ist, die Entwicklung einer Beziehung vorherzusagen. Wir Menschen sind unglaublich einfallsreich und ausdauernd und finden oft Wege aus einer Krise, die niemand vorhersagen kann. Wenn ich Ihre Beschreibung lese, kommen mir zwei Gedanken. Der erste ist, dass Sie sich beide während der Zeit, in der es Ihnen viel schlechter ging als jetzt, gegenseitig verletzt haben.

Jetzt sind Sie stärker und freier. Durch diese neue Rolle nehmen Sie Ihren Freund anders wahr. Seine ursprünglich attraktiven Qualitäten, dass er zuhören kann, gut einschätzbar und stabil ist, erscheinen Ihnen jetzt als wenig inspirierend. Vielleicht macht Sie die Kombination dieser beiden Faktoren nun mehr zu Geschwistern oder Freunden als zu zwei Liebenden?

Liste an Erwartungen

Der andere Gedanke, der mich beschäftigt, sind Ihre Erwartungen an ihn und ihre Beziehung. Erwartungen sind für eine Liebesbeziehung gefährlich, und unvorhergesehene Erwartungen fatal. Nämlich deshalb, weil wir dazu tendieren, andere für das Erreichen unserer Erwartungen verantwortlich machen, selbst wenn diese unsere eigenen sind und somit auch in unserer Verantwortung liegen.

Deshalb ist mein erster Rat an Sie, dass Sie eine Liste Ihrer Erwartungen an Ihren Freund erstellen und eine andere Ihr eigenes Leben betreffend. Schreiben Sie diese auf, und warten Sie ein paar Wochen. Vielleicht möchten Sie während dieser Zeit etwaige Korrekturen vornehmen. Fragen Sie Ihren Freund, ob auch er für sich Listen schreiben möchte. Danach vergleichen Sie diese. Es ist wichtig, dass Sie sich gegenseitig über Ihre jeweiligen Erwartungen Antworten geben. Ein einfaches "Ja, das geht", oder "Nein, geht nicht" reicht völlig. Beginnen Sie nicht darüber zu diskutieren oder sich zu erklären. Wenn es Ihnen beiden gelingt, wahrheitsgemäß zu antworten (und lassen Sie nicht die Angst darüber, was passieren könnte, dominieren), werden Sie ein Bild davon bekommen, was die Zukunft für Sie beide enthalten könnte.

Keine Verbindlichkeiten, keine Versprechen

Wenn Paare für vier bis fünf Jahre ineinander verliebt sind, verliert die Liebe und sexuelle Anziehung mit der Zeit ihren Reiz. Das hat nichts mit der Qualität oder der Beständigkeit der Beziehung zu tun. Vielmehr geht es dabei um den Zeitpunkt, jetzt herauszufinden, ob Sie sich auch gegenseitig lieben können. Diese Liebe ist – im Gegensatz zur Selbstaufgabe in Form von Liebe – getragen von Empathie und der Bereitschaft, den anderen so zu lieben, wie sie oder er jetzt ist. Fantasien oder Traumvorstellungen darüber, dass der andere mehr so sein soll, wie man selbst ist, zerstören die Liebe.

Wir können weder erwarten noch verlangen, dass der andere sich ändert. Ein offener Dialog allerdings, so wie jener, den ich vorgeschlagen habe, löst unvorhergesehene Veränderungen bei beiden Seiten aus. Er kann Hindernisse aus dem Weg räumen –Hindernisse, die sich in Form von Erwartungen, Enttäuschungen, Ärger und Frustration zeigen. Deshalb ist dieser Austausch am fruchtbarsten, wenn er nicht in Verbindlichkeiten oder Versprechungen endet. Besser, Sie lassen sich von dem, was in den nächsten Wochen passiert, überraschen. Das erste positive Zeichen wird sein, dass die "alte" erotische Attraktivität wieder lebendig wird.

Im Moment erleben Sie eine wichtige Phase in Ihrer beider Leben. Wenn mein Vorschlag nicht zeitnah umgesetzt werden kann, wäre es vielleicht eine gute Idee, ein paar Stunden in eine Paartherapie zu investieren, die Sie beide durch diese Zeit gut begleitet. (Jesper Juul, 28.1.2018)