In Wien wird sich 2020 zeigen, ob man in der Lage ist, sich wieder auf die Urkompetenz der einstigen Arbeiterbewegung, Partei des kleinen Mannes und der sozial Benachteiligten zu besinnen.

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Wien ist zweifelsohne das Machtzentrum der Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Wenn diese Hochburg fällt, gerät die SPÖ in eine noch tiefere Sinnkrise als jene, in der sie bereits jetzt schon steckt. Im schlimmsten Fall wird die einst so mächtige Bewegung zur mittelgroßen bis Kleinpartei und es droht ihr ein Schicksal als Juniorpartner für zukünftige Regierungen, wie dies jetzt schon bei der SPD in Deutschland der Fall ist. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache kokettiert bereits mit einem Antreten bei den kommenden Bürgermeisterwahlen in Wien und auch die neue Volkspartei schielt auf ein Stück des Wählerkuchens in der Bundeshauptstadt in einer Zeit, in der Gruppierungen links der Mitte ein eisiger Wind entgegenbläst. Sollte die SPÖ ihre elementarste Hochburg verlieren, sind die Folgen noch verheerender als der Verlust des Bundeskanzlers bei den letzten Nationalratswahlen. Ein multiples Organversagen im Torso der politischen Jahrhundertbewegung könnte die Folge sein und kein Stein würde in der SPÖ auf dem anderen bleiben.

Falsche Kopflastigkeit der Partei

Die SPÖ hat sich zu lange auf kopflastige und pseudointellektuelle Detaildebatten fokussiert und zunehmend das Gespür für die Bedürfnisse der Menschen verloren. Sie ist zu einer elitären Clique geworden, die besser weiß was der Bürger will oder zu wollen hat. Die Fähigkeit, trotz zahlreicher Bekundungen und Zugeständnisse dem Volk frei nach Martin Luther aufs Maul zu schauen, ist ihr abhandengekommen und man schmort zusehends im eigenen Wertesud. Das ist schön, wenn man in intellektuelle Debatten in einer Bezirkssektion oder einer Vorfeldorganisation vertieft ist. Es ist aber fatal, wenn man die Zeichen der Zeit nicht mehr erkennt. Denn wie stellte schon Friedrich Schiller treffend fest: "Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit".

Das Kernproblem der SPÖ ist relativ einfach zu diagnostizieren. Der Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry bringt sogar die Lösung auf den Punkt indem er richtig erkannte, dass man nur mit dem Herzen gut sieht. Dies sollte sich die österreichische Sozialdemokratie ins Stammbuch schreiben. Denn wahre Empathie hat nichts mit Rechts oder Links zu tun sondern mit der essentiellen Begabung, sich auf andere Menschen und deren Gefühlswelten einzulassen und ihnen nicht gleich mit vorgefertigten Lösungen und Wertekanons zu kommen. Jedem guten Arzt ist klar – zuerst Diagnose und dann die Therapie. In Wien wird sich 2020 zeigen, ob man in der Lage ist, sich fern von vorgefertigten Konzepten und Strategien wieder auf die Urkompetenz der einstigen Arbeiterbewegung, Partei des kleinen Mannes und der sozial Benachteiligten zu besinnen, nämlich auf Augenhöhe mit den Menschen zu kommunizieren und nicht von oben herab mit fertigen Rezepten und fast klerikalen Geboten.

Kampf um die Wiener Seele

Die Wiener Seele ist komplex. Nicht ohne Grund verfasste Sigmund Freud hier seine vielbeachtete Neurosenlehre. Wien als wirtschaftliche und kulturelle Drehscheibe mit einer beindruckenden Historie hat international anerkannte Wissenschaftler, Philosophen, Literaten und Künstler hervorgebracht. Das rote Wien stand viele Jahrzehnte für gelebte Sozialdemokratie und die Werte der Partei.

Verschiedensten politischen Wenden, wie etwa bei der schwarz-blauen Regierung in den 2000er Jahren, trotzte die rote Bastion. Spannend wird es zu beobachten, ob das rote Wien den nächsten Angriff rechts der Mitte standhalten kann oder ob sich der Wind auch in einer der lebenswertesten Metropolen der Welt drehen wird. Wien ist anders und die sensible Wiener Seele reagiert sehr resistent gegenüber Druck egal woher er kommen mag. Wie beim einzelnen Individuum erwartet sich die Kollektivseele eine entsprechende Behandlung. Es wird sich weisen, ob die Wiener SPÖ bei den kommenden Wahlen noch einmal die richtige Ansprache für diese findet. (Daniel Witzeling, 26.1.2018)