"Was warst du im Krieg?", fragt Gertrude Pressburger sich bei Gleichaltrigen noch heute.

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Aus Italien, der letzten Station vor der Deportation der Familie, erreichten Gertrude Pressburger nach dem Krieg deren Familienfotos. Jemand hat sie ihr nach Schweden geschickt. Sie sind das einzige, das ihr von ihrer Familie geblieben ist. Hier zu sehen die drei Kinder mit dem Vater in Ljubljana, 1940.

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Das letzte Familienfoto 1943, Mutter und Kinder in Caprino in Italien, von wo aus sie Im Frühjahr 1944 von deutschen Soldaten eingesammelt und deportiert wurden.

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Gertrude Pressburger / Marlene Groihofer: "Gelebt, erlebt, überlebt". € 19,60 / 208 Seiten. Zsolnay, Wien 2018

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Wien – In einem langen und an Untergriffen zu reichen Bundespräsidentschaftswahlkampf wurde sie im November 2016 zum Social-Media-Star. Weil sie in einem Video, veröffentlicht kurz vor der Wiederholung der Stichwahl zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer, besonnen vor Hass und Hetze warnte. Mehr als dreieinhalb Millionen Menschen haben es gesehen. Geschöpft hat die damals 89-Jährige an ihrem Esstisch aus der eigenen Biografie, denn Gertrude Pressburger hat den Holocaust überlebt.

Vier Millionen Menschen weltweit haben 2016 die Videobotschaft der 90-jährige Wienerin Gertrude Pressburger im Internet gesehen, in der "Frau Gertrude" vor einer extremen Wahlkampfrhetorik warnte und sich sich für Alexander van der Bellen aussprach. Jetzt sind die Lebenserinnerungen der Holocaust-Überlebenden erschienen.
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1927 in Wien geboren, erzählt sie im nun erscheinenden Buch Gelebt, erlebt, überlebt ihre Erinnerungen an die Jahre vor, während und nach dem Naziregime. Der unheilige Geist jener Zeit wird selbst für das Kind schon vor dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland spürbar. Etwa als 1937 ein Nachbar der Mutter, die im Innenhof Wäsche aufhängt, aus einem Fenster eine Pfanne nach dem Kopf schleudert. Sie verfehlt nur knapp. "Ein antisemitischer Anschlag", so Pressburger heute. Die Familie zieht um. "Denn jetzt wird es lebensgefährlich." Manche Orte ihrer Kindheit betritt sie bis heute nicht wieder.

Sensibel und packend

Journalistin Marlene Groihofer hat das Erzählprotokoll sensibel und packend aufgezeichnet. Wir lernen die fünfköpfige Familie kennen: liebevoll, resolut, heiter. Man gehört zum Kleinbürgertum, aber "dreckig und zerrissen muss man nicht daherkommen", fordert die Mutter. Gertrude rauft statt des sensiblen Bruders mit den Buben in der Schule. "Ganz eine Direkte" ist sie bis heute, und so spricht sie auch: ungeschönt und klar.

Der Vater ist Kunsttischler. "Der Hitler hat hier ohnehin keine Zukunft, wir gehen nicht weg", meinte er noch Mitte der 1930er. Vom Anschluss 1938 sind die Eltern geschockt. Unter den Kindern der Umgebung verbreiten sich antisemitische Reime. Ohne zu wissen, was ein "Jud" ist, erkennen sie den Umstand aus den Reden der Älteren als schändlich. Erst jetzt erfahren die Geschwister, dass sie – obwohl christlich erzogen – jüdische Wurzeln haben.

Ab März 1938 müssen sie die Schule wechseln, und der Vater – groß, blond, blauäugig – verliert seine Stelle. Als er grundlos inhaftiert wird, beschließt man, Österreich zu verlassen. Im September fliehen sie mit dem Nötigsten. Es beginnt eine Odyssee.

Kein Schulbesuch für Flüchtlinge

Man könnte die im Buch abgedruckten Fotos fälschlich für – die Forderung der Mutter nach sauberen Kleidern! – Urlaubsimpressionen halten: Zagreb, Triest, Mailand, Padua, San Remo, Genua ... Doch tatsächlich durfte (Aufenthaltsgenehmigung) oder konnte (Kriegsentwicklungen) die Familie nirgends lange bleiben. Man trifft auch auf hilfreiche Menschen, als Flüchtlinge dürfen die Kinder aber etwa nicht die dortigen Schulen besuchen. Man fühlt sich an heute erinnert: Seien es Juden oder Flüchtlinge, auf die sich Ablehnung konzentriert – Pressburger kennt die Probleme beider. Im Frühling 1944 wird die Familie nach Auschwitz deportiert.

Mutter und Geschwister werden von der Rampe herunter direkt in den Tod geschickt. Auch den Vater soll die 16-Jährige nie wiedersehen. "Achte darauf, dass du immer überall in der Mitte bleibst und nie am Rand stehst, widersprich nicht, fall nicht auf, füge dich. Dann kommst du durch", raunt ihr ein Soldat zu.

Die Erlebnisse im Lager, sie füllen einen guten Teil der 200 Seiten, schildert Pressbaumer ausführlich: Grausamkeit, Gewalt, Tod. Allerdings beschließt sie, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Nazismus und Aufschwung

Das wird ebenso bestimmend für das Leben danach. Sie überlebt, gelangt über Schweden 1947 nach Österreich zurück: "Widerwillig händigen mir ehemalige Nazis meine Papiere aus." Dass sie resolut ist, kommt ihr zupass. "Ich kämpfe mit meinem Mundwerk."

Pressburger erlebt Not und den noch schwelenden Nazismus, partizipiert durch Fleiß und Selbstbewusstsein aber auch am späteren Aufschwung. Die tätowierte Lagernummer lässt sie sich entfernen. Über das Erlebte reden kann sie kaum. Warum das Buch? Warum jetzt? "In den letzten Jahren ist meine Angst gewachsen. Ich empfinde die Stimmung als aufgeheizt." Ein eindrucksvolles Zeugnis, Lektüre lohnt. (Michael Wurmitzer, 29.1.2018)