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Wo ist die Empathie?

Foto: ap/Ronald Zak

Ich habe seit Tagen einen Ohrwurm: das unsägliche Lied von den alten Germanen. Am liebsten würde ich es vergessen, weil es so brutal und perfide ist. Ich habe es nämlich schon einmal gehört, und zwar – Sie werden es nicht glauben – Mitte der 1970er-Jahre auf dem Ausflug einer katholischen Gemeinde im damaligen Ostberlin, auf den es mich, das 13-jährige Mädchen aus einem strikt säkularen und auch jüdischen Milieu, verschlagen hatte. Ich bin mir relativ sicher, dass die Strophen, um die es jetzt geht, dort nicht gesungen wurden – jedoch ein ganz übles Lied über ein "Polenmädchen", das mich damals nachhaltig verstört hat. Ein "Ausbruch" aus dem "von oben" verordneten Antifaschismus? Ich habe dieses Erlebnis damals verdrängt und noch lange, bis nach der Wende, geglaubt, dass der offizielle Antifaschismus der DDR auch der gesellschaftlichen Realität entsprach.

Vermischung von "Tätern" und "Opfern"

Die Umstände waren natürlich nicht die gleichen wie jetzt in Österreich, aber unabhängig von der notwendigen juristischen Klärung und den politischen Konsequenzen ist dieselbe Frage zu stellen: Warum und für wen sind Lieder dieser Art faszinierend?

Für den Versuch einer Antwort muss leider noch einmal zitiert werden: "Da trat in ihre Mitte der Jude Ben Gurion: / Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die siebte Million!" Wie geht dieser Text vor? Ich möchte nur zwei Punkte nennen. Erstens: mit einer verschleiernden Vermischung von "Tätern" und "Opfern". Mit dem "Juden Ben Gurion" wird ja auf David Ben-Gurion (1886–1973) angespielt, den Mitbegründer und ersten Ministerpräsidenten des 1948 gegründeten Staates Israel. Die meisten Sänger dieses Liedes werden zwar mit so viel historischer Information überfordert sein, sodass für sie "Jude" und ein hebräisch klingender Name zur "Sinngebung" ausreichen müssen, aber: Hier wird letztlich der Repräsentant Israels unter der Hand zum Komplizen der Nazis! Ben-Gurion wird widersinniger- und perfiderweise als verantwortlich für den Holocaust bezeichnet, der Liedtext lässt ihn die "alten Germanen" auffordern, diesen zu begehen beziehungsweise fortzusetzen.

Angst und Skrupellosigkeit

Diese zynische Umkehr ist der Kick, mit dem das Lied arbeitet. Die mehrfache Ausweglosigkeit der Opfer, die damit in entwürdigender Weise fantasiert wird, ermöglicht –in der einzigen "Logik", die die Sänger des Liedes kennen – den Spott über sie. Damit komme ich zu einem zweiten Gedanken: Welche Voraussetzungen braucht es, um an "künstlerischen" Produkten dieser Art Gefallen zu finden? Es braucht vor allem eine ungeheure Angst davor, sich mit den vermeintlich Schwachen und Außenseitern zu identifizieren, die Angst, selbst zu ihnen gerechnet zu werden.

Diese Angst kennen diejenigen, die solche Lieder singen (und ebenso die, die sie verharmlosen), aus ihrer eigenen Kindheit und Jugend wahrscheinlich nur zu genau. Autoritäre Erziehung ist in Österreich noch weit verbreitet. Wo ist die Empathie? – das ist die wahre Frage, die hinter diesen Zeilen steckt. Denn die größte Provokation dieses Liedes ist wohl diese: Wer es singt, will anderen Angst machen, indem er Skrupellosigkeit demonstriert. Er oder sie tut kund, für Wertschätzung und Empathie nicht mehr erreichbar zu sein. Und für echte und klare Kommunikation schon gar nicht.

Das Denken dekonstruieren

Wer solche Lieder singt, wer solche Lieder weitergibt, erzählt damit von sich, indirekt und verzerrt, eine Geschichte, die nach demselben Muster wie das Lied selbst gestrickt ist: Identifikation mit den Gewalttätern und Verachtung der Schwächeren – als vermeintlicher Schutz vor der Konfrontation mit tatsächlich Erlebtem. Was nicht heißt, dass die Betreffenden nicht zur Verantwortung gezogen werden müssen! Wer anderen Angst macht, wer skrupellos daherkommt, muss in der Öffentlichkeit deutliche Grenzen aufgezeigt bekommen; umso mehr, wer die Opfer von Genoziden verhöhnt.

Auf der juristischen Ebene ist die Sache – hoffentlich – eindeutig. Doch dahinter gibt es noch einigen Gesprächs- und Handlungsbedarf. Der Vorfall mit dem Lied von den alten Germanen zeigt, dass (und wo) die zynische Logik von Entwürdigung und Skrupellosigkeit noch immer Anklang findet und funktioniert. Aber auch: Dass eine Öffentlichkeit, die so etwas nicht mehr hinnimmt, sich immer unmissverständlicher äußert. Es geht darum, dieses Denken zu dekonstruieren, zu entlarven, überall. (Susanne Plietzsch, 29.1.2018)