Es gibt nur wenige Regierungschefs oder Parteiführer in der freien Welt, deren Amtszeit nicht mit parteiinterner Ablösung oder einer Wahlniederlage endet.

In Österreich war zum Beispiel Franz Vranitzky der einzige Bundeskanzler seit dem Zweiten Weltkrieg, der nach mehr als zehn Jahren aus freien Stücken aufhörte, bevor er das Vertrauen seiner sozialdemokratischen Partei oder der Wähler verloren hätte. Ein Gegenbeispiel war das bittere Ende Bruno Kreiskys, des erfolgreichsten österreichischen Staatsmannes seit dem Krieg, oder das Zögern des Wiener Bürgermeisters nach einem Vierteljahrhundert im Rathaus, den Weg für einen Nachfolger rechtzeitig freizumachen.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel soll laut ihrem Biografen Nikolaus Blome (Pantheon-Verlag, München 2013) im Kreis ihrer Vertrauten mehrmals gesagt haben, sie halte zehn Jahre für die maximale Stehzeit eines Regierungschefs. Blome hatte vorausgesagt, Angela Merkel würde "spätestens im Jahre 2015 ihre Ämter an der Regierungs- und Parteispitze abgeben". Bekanntlich bekleidet sie beide Funktionen bis heute und will im Falle einer neuerlichen großen Koalition (Groko) mit der SPD Bundeskanzlerin bleiben. Nach dem Rückschlag bei der Wahl, dem Scheitern des Jamaika-Experiments und angesichts der wachsenden Unsicherheit über die Fortsetzung der großen Koalition ist es bereits offensichtlich, dass diese herausragende Politikerin, wie alle ihre Vorgänger im Bundeskanzleramt, den richtigen Zeitpunkt für den Abgang mit Würde verfehlt hat.

Einen galoppierenden Autoritätsverfall erlebt derzeit der SPD-Vorsitzende Martin Schulz. Am 25. September, einen Tag nach der Bundestagswahl, hatte der geschlagene Kanzlerkandidat vor laufenden Kameras angekündigt: "In eine Regierung von Angela Merkel werde ich nie eintreten." Anschließend sprach er sich für den Neuwahlkurs aus, um dann unter dem Druck des sozialdemokratischen Bundespräsidenten auf dem Parteitag im Dezember für eine neue Groko zu werben. Auf dem kürzlich abgehaltenen Sonderparteitag wurde der geradezu dramatische Verlust seiner Autorität offenbar.

Seine Weigerung, auf dem Parteitag zu erklären, dass er nicht ins Kabinett gehen, sondern sich ganz auf das Amt des Parteichefs im Interesse der Erneuerung konzentrieren wolle, hat anscheinend den totalen Absturz in der Gunst der Deutschen ausgelöst. Martin Schulz beharrt weiterhin auf seinem Anspruch auf ein Ministeramt.

Laut einer zum Wochenende veröffentlichten Umfrage wollen 74 Prozent der Befragten und sogar 59 Prozent der SPD-Wähler Martin Schulz nicht als Minister. Eine schallende Ohrfeige für den angeschlagenen Parteivorsitzenden, noch dazu mitten in schwierigen Koalitionsverhandlungen. Der Fall Schulz zeigt, dass falsche Selbstsicherheit, Selbstgerechtigkeit und Rechthaberei für jeden Politiker tödlich sind.

Niemand weiß heute, ob CDU und CSU in der heiklen Migrantenfrage weitere Konzessionen machen und ob die SPD-Mitglieder überhaupt für die Groko stimmen werden. Die Einsicht in die Begrenztheit der Möglichkeiten und in die Fragwürdigkeit des Erfolgs verstärkt die Zweifel an einer baldigen Rückkehr zur politischen Stabilität im Schlüsselstaat der Europäischen Union. (Paul Lendvai, 30.1.2018)