In einem Krankenhaus der Stadt Fukuoka spielte sich im Jänner die wohl tragischste Szene der japanischen Justizgeschichte ab: Der 81-jährige Iwao Hakamada, der fast ein halbes Jahrhundert höchstwahrscheinlich zu Unrecht in der Todeszelle saß, traf auf den 80-jährigen Norimichi Kumamoto, der ihn 1968 zum Tode verurteilt hatte. Nun sahen sich die beiden nach 50 Jahren als Greise wieder.

Der frühere Richter war schon während des Prozesses davon überzeugt, dass der damalige Berufsboxer für den ihm zur Last gelegten Mord einer vierköpfigen Familie nicht verantwortlich war. Aber er setzte sich nicht gegen seine beiden Amtskollegen durch und stellte mit ihnen das Todesurteil aus. Dafür wollte sich Kumamoto nun entschuldigen, auch wenn er sich seit 2007 für die Wiederaufnahme des Falles eingesetzt hatte. Doch nach einem Schlaganfall liegt Kumamoto im Krankenbett und kann kaum noch sprechen. Mehr als der Vorname seines Opfers kam ihm daher nicht über die Lippen: "Iwao, Iwao ..."

DNA-Analyse

Hakamada geht es gesundheitlich nicht viel besser. Vor knapp fünf Jahren wurde er freigelassen, nachdem neue DNA-Analysen von Blutspuren seine Unschuld nahelegten. 46 Jahre lang hatte er in der Todeszelle gesessen, so lange wie kein anderer Mensch, viele Jahre davon in Isolationshaft. Dadurch leidet er unter einer "institutionellen Psychose", wie seine Unterstützer berichten. Von sich selbst spricht er nur in der dritten Person. Im Alltag kommt er nur zurecht, weil sich seine 84-jährige Schwester um ihn kümmert.

Seine Verurteilung beruhte auf einem offenbar erzwungenen Geständnis. Nach eigenen Angaben wurde Hakamada in mehr als drei Wochen Polizeigewahrsam 264 Stunden lang verhört und dabei so lange bedroht und auch geschlagen, bis er ein Geständnis unterschrieb. Schon beim ersten Prozesstag widerrief er, aber das nützte ihm nichts.

In Japan kann ein Verdächtiger bis zu 23 Tage lang in einer Polizeizelle eingesperrt werden, bei mehreren Vorwürfen sogar ein Mehrfaches dieser Zeit, ohne dass er einen Anwalt kontaktieren darf. Kenner sprechen von "daiyo kangoku" (Ersatzgefängnis). In Österreich ist ein solcher Polizeigewahrsam nur für maximal 48 Stunden erlaubt.

99,8 Prozent Verurteilte

Ein Geständnis liefert dem Staatsanwaltschaft und dem Richter die Basis für eine Verurteilung und wird häufig gleichwertig mit forensischen Beweisen gewertet. 99,8 Prozent aller Strafprozesse enden mit einem Schuldspruch. In 89 Prozent aller Prozesse gab es vorher ein Geständnis.

Im japanischen Rechtsverständnis ist es der erste Schritt zur Läuterung des Täters. Nur wer gesteht, hat eine gute Chance, auf Kaution entlassen zu werden. Zudem zieht der Widerruf des Geständnisses den Prozess in die Länge. Im Zweifel für den Angeklagten – so tickt Japans Justiz nicht. Freisprüche gefährden die Karriere eines Staatsanwalts und eines Richters und untergraben die Glaubwürdigkeit der Polizei. "Es gibt noch mehr falsche Verurteilungen", sagt Juristin Kana Sasakura von der Konan-Universität in Kobe.

Der Fall Hakamada stellt dieses System infrage. Denn bei ihm hat die Polizei offenbar nicht nur das Geständnis erpresst, sondern wohl auch Beweise manipuliert. Doch bis heute gab es keine offizielle Äußerung des Bedauerns für den Justizirrtum. Eine Reform der Untersuchungshaft blieb im Parlament stecken. Der Justiz ist das Ganze so peinlich, dass die Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme des Verfahrens mit dem erwarteten Freispruch bis heute verzögert. "Die mentale Folter von Hakamada geht weiter", kritisierte Amnesty International. (Martin Fritz aus Tokio, 31.1.2018)