Wien – Zehn Schnitt- und eine Stichverletzung hatte Lahcen E., nachdem ihn Gonzalo G. am 20. August besucht hatte. "Wie erklären Sie sich die Verletzungen?", fragt Norbert Gerstberger, Vorsitzender des Geschworenengerichts, den 20-jährigen G., der wegen Mordversuchs vor ihm ist. "Ich weiß es nicht", antwortet der Unbescholtene. "Das war ein Blutbad, die Wände sind mit Blut vollgespritzt!" – "Ich habe mich verteidigt."

Laut Anklage war es keine Notwehr: G. soll gegen Mitternacht vom damals 29 Jahre alten Opfer Drogen oder Geld gefordert haben. Als er weder-noch bekam, habe er begonnen, auf ihn einzustechen, sagt der Staatsanwalt. "Man muss leider sagen, dass der Verletzte sich das selbst zuzuschreiben hat", kontert Verteidiger Ernst Schillhammer. Die Version seines Mandanten G.: E. habe ihn sexuell belästigt und mit einem Küchenmesser bedroht.

Verletzte zufällig kennengelernt

Zunächst erzählt G. dem Gericht aber seine Vorgeschichte. Mit neun Jahren kam er nach Österreich, nach dem Abschluss der Pflichtschule brach er zwei Lehren ab, lebte bei der Mutter und verdiente mit Gelegenheitsjobs Geld. "Ich war ziemlich faul", gibt er offen zu. Tagesfreizeit hatte er genug, auf der Straße lernte er im Sommer den nicht weit entfernt wohnenden E. kennen. "Ich habe von ihm eine Zigarette geschnorrt, wir haben Telefonnummern ausgetauscht", schildert der Angeklagte.

Einige Wochen später habe ihn der Verletzte angerufen und gesagt, er solle vorbeikommen, um einen Joint zu rauchen. G. kam und rauchte, behauptet er. In der Tatnacht hatte er wieder Lust auf Benebelung, E. sei aber der Frage nach Drogen ausgewichen und habe ihm statt dessen Komplimente gemacht. "Das war eklig", verrät der Angeklagte, er wollte daher gehen.

Plötzlich habe E. mit den Worten: "Wir sind hier noch nicht fertig", die Tür blockiert und ein Messer gezogen. "Was haben Sie gemacht?", will Gerstberger wissen. "Er hat ein Scheißmesser gehabt! Ich habe zweimal nach der Polizei geschrien", sagt der 20-Jährige. Erst nachdem ihm E. mit der anderen Hand auf den Penis gegriffen habe, sei ihm alles egal geworden: Er stieß E. erst weg und griff dann sogar ins Messer, um es ihm zu entwinden, was gelang.

Stich ins Herz

Danach habe er mit der Waffe "herumgefuchtelt", an Details kann er sich nicht mehr erinnern. Der medizinische Sachverständige Christian Reiter hält es für möglich, dass viele der Schnittverletzung so entstanden sein könnten. Nur:_Eine findet sich auch am Rücken, dazu kommt die einzige Stichverletzung, die das Herz traf und fast zu E.s Tod geführt hätte. Allerdings sei diese Wunde mit fünf bis zehn Zentimetern Tiefe nicht besonders ausgeprägt, da die aus der Wohnung von E. stammende Tatwaffe eine Klingenlänge von 19,5 Zentimeter habe.

Der Verletzte erzählt teils unter Tränen dagegen, er habe G. beim ersten Besuch zehn Euro geschenkt. Dabei müsse der Angeklagte das viele Bargeld gesehen haben, das der Gastronomieangestellte bei sich trug. In der Tatnacht habe der Angeklagte ihn sofort nach Drogen oder Geld gefragt und dann attackiert. Er habe aber weder etwas mit illegalen Rauschmitteln zu tun noch sei er homosexuell, betont E., der wegen der Verletzungen noch immer im Krankenstand ist und 15.000 Euro Schmerzensgeld fordert.

Der psychiatrische Sachverständige Peter Hofmann berichtet, dass G. zwar an einer Borderline-Störung und Depressionen leidet, aber zurechnungsfähig und auch kein gefährlicher geistig abnormer Rechtsbrecher ist.

Die Geschworenen glauben im Endeffekt keine der Geschichten. Sie verurteilen G. nicht rechtskräftig wegen Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen zu dreieinhalb Jahren Haft, vom versuchten Raub wird er freigesprochen. Zusätzlich muss er dem Verletzten die 15.000 Euro zahlen. (Michael Möseneder, 30.1.2018)