Wie Dünen erheben sich die Berge in der arktischen Wüste von Spitzbergen. Niederschläge sind rar, die Winde stark. Auch der Schnee unterscheidet sich von jenem in den Alpen.
Foto: Erik Kuschel

Longyearbyen/Wien – Wer den Ort Longyearbyen verlässt, nimmt Signalpistole und Gewehr mit. Sollte man im Umkreis der ehemaligen Bergbausiedlung auf dem arktischen Archipel von Spitzbergen auf einen Eisbären treffen, kann man ihn damit vertreiben oder in Notwehr erschießen. Die Tiere sind eine reale Gefahr: Drei Menschen wurden in den vergangenen Jahrzehnten getötet. Doch eine andere arktische Gefahr hat sich als noch bedrohlicher erwiesen; eine Gefahr, die aus den Alpen nur zu gut bekannt ist: Lawinen.

Am 19. Dezember 2015 wurden zwölf Häuser in Longyearbyen von den Schneemassen mitgerissen. Zwei Menschen starben. 2017 gab es am selben Ort ein neuerliches Lawinenereignis, diesmal ohne menschliche Verluste. In den vergangenen 15 Jahren kamen insgesamt sieben Personen in Spitzbergen durch Lawinen ums Leben – bei einer Einwohnerzahl von weniger als 3000 Menschen.

Ein großer Teil der etwa 2200 Einwohner der Ortschaft Longyearbyen – weitere 500 leben in der russischen Siedlung Barentsburg – widmen sich der Wissenschaft, die neben dem Tourismus der Hauptdaseinszweck der Siedlung auf der von Norwegen verwalteten Inselgruppe ist. Eine internationale Forschercommunity untersucht das arktische Ökosystem, die Auswirkungen des Klimawandels, sie kümmert sich um hier angesiedelte Satellitenstationen, Radaranlagen oder schießt Forschungsraketen in den arktischen Himmel.

Alexander Prokop ist einer der Wissenschafter, die hier mindestens sechs Monate pro Jahr verbringen. Als Professor am University Centre in Svalbard (UNIS), der "nördlichsten Universität der Welt", konzentriert sich der frühere Dozent der Universität für Bodenkultur Wien auf die arktische Lawinenforschung.

Alpines Know-how

Im Vergleich zum Alpenraum ist dieses Feld in Norwegen weniger weit entwickelt, erklärt der 44-Jährige. "Das hat historische Gründe: Mit den traditionellen Fjellski, einem Mittelding aus Langlauf- und Alpinski, konnten kaum steile – und damit gefährliche – Hänge befahren werden. Auch die Ortschaften sind hier viel seltener in Gefahrenzonen gebaut als in den Alpen." Dementsprechend wenig Know-how war vorhanden.

In Norwegen selbst gibt es nun, dank der vielen Skitouristen, seit wenigen Jahren einen Lawinenwarndienst. Prokop bringt alpine Expertise nach Spitzbergen und kümmert sich um die Etablierung entsprechender Sicherungsmaßnahmen. Er baut ein Netz an Messstationen rund um Longyearbyen auf, erstellt Gefahrenzonenpläne und nimmt Daten von Lawinenereignissen auf, um die Simulationsmodelle damit zu füttern.

Die Niederschläge in Spitzbergen machen kaum ein Drittel jener der Alpen aus. "Eigentlich ist es eine arktische Wüstengegend", sagt Prokop. Trotz der nördlichen Lage seien die Temperaturen eher mild und kaum vergleichbar mit Gebieten in Sibirien etwa. "Spitzbergen ist mit seiner Lage am Ende des atlantischen Golfstroms die wärmste arktische Region. Die Temperaturen sind hier in den vergangenen 100 Jahren zudem überdurchschnittlich stark gestiegen – um etwa vier bis fünf Grad", berichtet der Wissenschafter. "Wir bekommen oft Besuch von Politikern, denn mit dem Rückgang der Gletscher – mehrere Kilometer in wenigen Jahren – tritt die Erderwärmung hier besonders plastisch vor Augen. Man sieht den Klimawandel mit freiem Auge."

Die Schneeverhältnisse sind hier anders als in den Alpen: Die Schneedecke besteht durch oftmaligen, aber geringen Niederschlag aus dünnen Schichten, die Schneekristalle sind dank der Kälte kleiner ausgebildet. Der Permafrostboden sorgt für tiefere Temperaturen am Übergang zwischen Boden und Schnee.

Die Schneedecke unterliegt nicht den Strahlungsveränderungen eines mitteleuropäischen Tag-Nacht-Zyklus. Nord- und Südexpositionen, die in den Alpen für die Lawinengefahr relevant sind, haben hier kaum Bedeutung. Trotzdem gibt es hohe Temperaturschwankungen: "Wir haben an einem Tag -18, am nächsten +3 Grad Celsius", gibt der Forscher ein Beispiel. "Wie in den Alpen kommen Nassschneelawinen vor, bei denen sich durch wärmere Temperaturen Wasser an einer Gleitschicht sammelt", erklärt Prokop. "Ein anderes vorherrschendes Muster sind Schneebrettlawinen, bei denen eine feste, flächige Schicht bricht und entlang einer Schwachschicht abgeht." Neben den Ansiedlungen und Forschungsstationen sind vor allem die Fahrer von Schneemobilen – dem gängigen Fortbewegungsmittel – der Gefahr ausgesetzt.

Wind als Hauptgefahr

Dass es trotz der geringen Niederschläge zu hoher Lawinengefahr kommen kann, liegt am starken Wind, der das Wetter in Spitzbergen prägt. "Der Wind verfrachtet den Schnee laufend. Die Triebschneeansammlungen können den Lawinen enorme Ausmaße verleihen", erklärt Prokop. "Beispielsweise geht eine Gefahr davon aus, dass die großen Wechten am Rand der Plateauberge, die Longyearbyen begrenzen, abbrechen und Lawinen auslösen". Um einen drohenden Wechtenbruch einschätzen zu können, werden Laserscanner eingesetzt – eine Technologie, die der Wissenschafter selbst im Rahmen seiner Dissertation erstmals für die flächige Schneehöhenmessung adaptiert und entwickelt hat. Mittlerweile wird die Technik weltweit eingesetzt und weiterentwickelt (siehe Artikel links).

Die Schnee- und Wetterdaten der Messstationen, die Prokop und sein Team errichtet haben, werden einerseits für die aktuellen Prognosen verwendet. Andererseits sind sie der Beginn einer Zeitreihe für die langfristige Beobachtung, die die Häufigkeit und Wiederkehrdauer von Lawinenereignissen bestimmbar macht. Die Aufzeichnungen laufen nun aber erst den zweiten Winter.

Ab Februar wird es langsam wieder heller. Die Polarnacht endet, um ab Mai dem arktischen Frühling Platz zu machen. Prokops Freizeitgestaltung in Spitzbergen ähnelt den Tätigkeiten, die auch seine Arbeit prägen. Ihn zieht es hinaus in den Schnee, um auf Ski die Landschaft zu erkunden. Er selbst musste übrigens bisher noch keinen Eisbären verscheuchen. Aber man weiß nie. (Alois Pumhösel, 1.2.2018)