Inhalte des ballesterer Nr. 129 (März 2018) – Seit 1. Februar im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk

SCHWERPUNKT: 1968 IM FUSSBALL

GENERATION IM AUFBRUCH
Eine Spurensuche vom Pariser Mai bis zur Democracia Corinthiana

THEORIE UND PRAXIS
Cesar Luis Menottis linker Fußball

SELBSTBESTIMMTES CHAOS
Die Entstehungsgeschichte der Ultras

ABSEITS DER SPIESSIGKEIT
Die Geschichte der ersten Alternativliga

Außerdem im neuen ballesterer

"ICH WAR EIN NARR"
Ein Besuch bei Ex-Profi Alain Masudi

SCHULDIG
Im FIFA-Prozess wurden erste Urteile gefällt

MONEY TALKS
Ein Anstoß zum Geschäft Fußball

TATEN STATT WORTE
Wolfsburg-Kapitänin Nilla Fischer fordert echte Gleichstellung

BUNDESLIGIST ODER BEZIRKSVEREIN?
Die Vienna-Familie muss sich neu aufstellen

GÖTTIN DER JUGEND
Das Erfolgsgeheimnis von Atalanta Bergamo

NEBENSCHAUPLATZ STEYR

STILLE STADIEN
Eine Fotoreise durchs Ruhrgebiet

ARBEITERRECHTE
Ein Film von den Baustellen in Katar

GROUNDHOPPING
in Algerien, Deutschland, Frankreich und Guatemala

Cover: Ballesterer

Sollier grüßte mit geballter Faust. "Wer links war, hat mir applaudiert. Die anderen haben mich ausgepfiffen. Das hat mich aber nie gestört. Die ganze Geschichte ist nur einmal aus dem Ruder gelaufen – gegen Lazio in Rom."

Foto: Pubblico Dominio

Sollier: "Ich war eine Ausnahme, die meisten meiner Kollegen haben nie gesagt, was sie denken."

Foto: Pubblico Dominio

Paolo Sollier war Teil jener Mannschaft, die Perugia 1975 erstmals in die Serie A brachte. In Erinnerung ist er aber nicht für seine sportlichen Leistungen geblieben, sondern für den Gruß an seine Fans – mit geballter Faust. Die Profikarriere ist ihm passiert, so scheint es. Als Fließbandarbeiter bei Fiat und Student befand er sich an zentralen Orten der italienischen Proteste von 1968 und 69. Daneben spielte er in Amateurteams, ehe er in der Serie B landete. Die Erfahrungen als Profi und Aktivist einer außerparlamentarischen Gruppe verarbeitete er in dem 1976 im italienischen Original erschienenen Buch "Ein Porträt des Fußballspielers als junger Mann".

ballesterer: Nervt es Sie, mehr als 40 Jahre nach Erscheinen Ihres Buchs immer noch Interviews dazu zu geben?

Paolo Sollier: Nein, ich spreche gerne darüber. Man muss nur alles im Zeichen seiner Zeit sehen. Das Buch zeigt, wie meine Freunde und ich damals gedacht haben. Es ist um sehr viel gegangen – vom Kampf gegen autoritäre Systeme wie Schule und Familie über die Gleichstellung der Geschlechter bis hin zur Verteilung gesellschaftlichen Reichtums. Das Buch ist eine Art Tagebuch meines Weges – auf einer politischen, sportlichen und persönlichen Ebene.

Eines ungewöhnlichen Weges?

Unter Studenten und Arbeitern war es ganz normal, sich zu engagieren. Nur im Fußballbetrieb war das ein Skandal. Deswegen habe ich es auch zu ein bisschen Berühmtheit gebracht.

Hat es im Fußball keine Linken gegeben?

Die Spieler waren von der Welt des politischen Aktivismus weit entfernt. Später sind einige wie Gianni Rivera und Massimo Mauro bei Wahlen angetreten, aber eher aus dem Motiv heraus: "Ich bin bekannt, ich lasse mich wählen." Das Politikverständnis meiner Generation war ein ganz anderes, es hat bedeutet, für eine Leidenschaft zu kämpfen.

Wie sind Sie politisch sozialisiert worden?

Ursprünglich in der Welt der kritischen Katholiken, wir haben Solidaritätsarbeit gemacht. Irgendwann habe ich aber verstanden, dass die Lösung nicht aus Wohltätigkeit bestehen kann, sondern aus der Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Wir haben dafür hart gekämpft – und erfolgreich. In Italien sind in den 1970er Jahren einige Fortschritte erzielt worden. Leider hat es später massive Rückschritte gegeben.

Wie haben Ihre Genossen Ihre Spielerkarriere gesehen?

Sie waren sehr zufrieden. Ich war damals bei der Avanguardia Operaia, einer kleinen linken Gruppe rund um die Zeitung Quotidiano dei lavoratori. Meine Fußballerkarriere hat uns Sichtbarkeit verschafft.

War das eine Belastung für Sie?

Nein, ich habe das immer wie ein braver Katholik ertragen. Als ich Profi geworden bin, habe ich mir die Frage gestellt, ob ich mich politisch weiter exponieren will. Die Antwort war recht klar: Wenn ich meine Ideale ernst nehme, muss ich sie auch leben. Dann haben alle Zeitungen von mir berichtet. Ich war eine Ausnahme, die meisten meiner Kollegen haben nie gesagt, was sie denken.

Auch nicht in der Kabine? War Ihre politische Aktivität dort Thema?

Nein, fast nie. Ich habe diskutiert, wenn jemand nachgefragt hat. Aber ich wollte niemanden mit meinen Themen zwangsbeglücken. Meine politische Aktivität ist neben dem Fußball gelaufen.

Und doch haben Sie bei der Mannschaftsaufstellung mit der geballten Faust gegrüßt.

Das habe ich schon als Amateur gemacht, um die drei, vier Genossen zu begrüßen, die manchmal zum Spiel gekommen sind. In Perugia habe ich das fortgesetzt, aber dort war es nicht mehr an die Außenwelt gerichtet, sondern an mich. Um mich daran zu erinnern, wer ich bin.

Die Außenstehenden haben das aber auch gesehen. Wie haben die Fans reagiert?

Wer links war, hat mir applaudiert. Die anderen haben mich ausgepfiffen. Das hat mich aber nie gestört. Die ganze Geschichte ist nur einmal aus dem Ruder gelaufen – gegen Lazio in Rom.

Was ist da passiert?

Am Abend vor dem Spiel sollte ich der Presse für ein paar Fragen zur Verfügung stehen. Am Ende hat mir ein Journalist gesagt: "Sie wissen aber schon, dass fast alle Lazio-Spieler rechts sind." Ich habe im Scherz geantwortet: "Wenn wir gewinnen, besiegen wir also die Mannschaft von Mussolini." Am nächsten Tag war das die Schlagzeile vom Messaggero. Im Stadion haben die Fans ein Transparent gegen mich aufgehängt und Perugia-Fans verprügelt. Damals habe ich zum einzigen Mal Stress in der Kabine bekommen. Meine Kollegen haben gesagt: "Sonst ist uns egal, was du so machst, aber hier hast du Scheiße gebaut."

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie keine Autogramme gegeben haben. Warum eigentlich?

Als ich noch in der Schule war, habe ich den Schwimmer Dino Rora, der zwei Klassen über mir war, einmal um ein Autogramm gebeten. Danach habe ich mich gefragt, was mir das eigentlich bringt. Als ich dann als Serie-D-Spieler in Cossato selbst um eines gebeten worden bin, habe ich gesagt: "Gehen wir lieber auf einen Kaffee, so lernen wir uns kennen." Ich habe sogar für unser Matchprogramm ein paar Gedanken dazu geschrieben, warum ich keine Autogramme gebe. Nicht aus Arroganz, sondern damit man sich auf Augenhöhe begegnet.

Wie sehen Sie das aktuelle Fußballgeschäft? Hat es sich seit Ihrer Zeit verbessert oder verschlechtert?

Ich kann das nicht beurteilen, weil ich vom Profifußball schon seit Jahren sehr weit weg bin. Im Amateurbereich ist die Atmosphäre immer noch gut, vielleicht weil dort weniger Geld im Spiel ist. Der Profifußball wirkt hollywoodesk, du bist ständig im Scheinwerferlicht. Das muss hart sein.

Ist es heute noch schwieriger, als Fußballer ein linker Aktivist zu sein?

Ich weiß es nicht, dazu müsste ich erst einmal einen kennenlernen.

Cristiano Lucarelli?

Das stimmt, er ist einer, der immer gesagt hat, was er denkt. Es werden aber ständig dieselben Namen genannt, dabei gäbe es so viele Spieler. Es gibt viele sympathische, offene und wohltätige Fußballer, aber mir fällt niemand ein, der auch eine politische Rolle spielen würde. (Interview: Jakob Rosenberg, Mitarbeit: Mareike Boysen, 1.2.2018)