Nieder mit der Illusion: Von der radikalen Einbeziehung des Körpers in die Malerei erzählt Günter Brus' Aktion "Ana" (1964/2004).

Foto: Johannes Stoll / Belvedere, Wien

Wien – Im kollektiven Gedächtnis ist der Künstler Günter Brus eher als "wilder Hund" eingefächert. Man mag an seine Teilnahme an der Aktion Kunst und Revolution (1968) in einem Hörsaal der Universität Wien denken, bei der die Wiener Aktionisten auch mit Exkrement hantierten. Oder an die verausgabungsvolle Performance Zerreißprobe (1970), bei der Brus zunächst Urin in eine per Rasierklinge geöffnete Wunde goss und später mutwillig ausrutschte und hinknallte, sich blutend und leidend am Boden wand.

Weniger bekannt ist demgegenüber, dass der Künstler abseits jener radikalen Körperkunst, mit der er in die Kunstgeschichte einging, auch ein eindrucksvolles zeichnerisches – respektive literarisches – Werk geschaffen hat. Als Steigerung nach der Zerreißprobe habe er die Wahl gehabt, sich "vor Publikum umzubringen oder sich zu verändern", meinte er einmal. Und entschied sich, so möchte man sagen, fortan weniger das Blut als vielmehr die Gedanken fließen zu lassen.

Versponnen-luzide Literatur

Und wie! So denkt man es sich einmal mehr, wenn man nun jene Retrospektive betritt, mit der das Belvedere 21 (vorm. 21er-Haus) den 80. Geburtstag des steirischen Künstlers begeht. Überwältigend ist die Fülle gezeichneter Visionen und versponnen-luzider Experimentalliteratur, die von Brus' "Bilddichtungen" her auf einen einprasselt. Irgendwo zwischen morbider Romantik, Hieronymus Bosch und Märchenbuch flottieren die teils auf Packpapier gefertigten expressiven Zeichnungen; textlich wechseln automatistisch wirkende Sudeleien mit Einzeilern ab. Hier illustrierte Brus in einer Serie von 1982 einen Wortwitz: "Herr Doktor, immer wenn ich Wasser lasse, höre ich Texte." – "Sie haben eine Sprechblase!"; dort steht in aphoristischem Ton: "Jede Erinnerung ist ein Gewürz für einen Leichenschmaus".

Lese- und Schauvergnügen

Dies nur Schlaglichter auf eine Ausstellung, die mit rund 700 Exponaten ein Lese- und Schauvergnügen bietet, wie es wohl zuletzt die Schau des US-Zeichners Raymond Pettibon in Salzburg bot. Frühe informelle Zeichnungen, aber auch Entwürfe für Bühnenstücke sind darin zu sehen. Einzelne Serien werden zum ersten Mal gezeigt; bei allen aber ging es Kurator Harald Krejci (Assistenz: Ana Petrovic) darum, sie möglichst umfassend zu präsentieren.

Immerhin bestand ein Ziel darin, Brus' Image vom bloßen Provokateur und "Uni-Ferkel" – wie Boulevardmedien den Künstler nach der Aktion im Hörsaal 1968 nannten – aufzuweichen. Auf die Zerreißprobe verweisen nur ein Plakat und einige Fotos. Explizite Bildserien wie der sadistisch-pornografische Irrwisch wurdenanders als 2016 in einer ähnlichen Schau in Berlin – ausgeklammert.

Auch jene Arbeiten, die entstanden, bevor Brus 1969 als eine Art Staatsfeind vorübergehend ins Exil nach Berlin ging, sollen in ein neues Licht gerückt werden. Besonderes Gewicht kommt dabei der Aktion Ana (1964) zu, die in Zusammenarbeit mit dem Künstler und unter Rückgriff auf dessen Archiv in erweiterter Form präsentiert wird: Ein Mann befreit sich aus einem Kokon aus Malerleinwand, um eine Linie durch den Raum zu ziehen, die Gegenstände darin, aber auch seine Partnerin und sich selbst zu bemalen.

Unerhörte Unmittelbarkeit

Brus' Aktion, realisiert zusammen mit seiner Ehefrau Anna, zeugt von jener besonderen Vertrautheit, die das Ehepaar bis heute verbindet. Als Schlüsselwerk zu seinem Schaffen ist sie aber noch aus einem anderen Grund zu sehen. Die Befreiung von den Grenzen der Malerei – hier symbolisiert durch das Ablegen des Kokons aus Leinwandstoff – und die radikale Einbeziehung des Körpers ins gemalte Bild: diese Ideen bilden einen Nukleus seines Schaffens.

In Brus' berühmtem Wiener Spaziergang (im weißen Anzug und bemalt mit einer schwarzen Linie) wird man etwa das Motiv der den Körper entzweiteilenden Linie wiederfinden. Die Suche nach einer neuen, körperlichen Unmittelbarkeit bestimmt aber auch Brus' selbstverletzende Aktionen: Jede Illusion, dass irgendetwas "nur gespielt" sei, musste angesichts etwa der Zerreißprobe zerplatzen. (Roman Gerold, 2.2.2018)

Zum 80. Geburtstag widmet das Belvedere 21 in Wien Günter Brus eine umfassende Perspektive.
ORF