Wien – Der Bürgermeister der griechischen Insel Chios, Emmanouil Vournous, hat die Umsetzung des EU-Türkei-Deals durch den griechischen Staat kritisiert. "Die Rückführung von Flüchtlingen im Rahmen des Abkommens funktioniert nicht", sagte er im APA-Interview, anlässlich der dieswöchigen NOW-Konferenz in Wien. Die EU rief Vournous zu einer einheitlichen Asylpolitik auf.

"Das Problem ist dasselbe auf allen griechischen Inseln, nicht nur auf Chios", sagte der Bürgermeister der Insel, auf der sich einer der fünf Hotspots für Flüchtlinge befindet, die über das Mittelmeer von der Türkei aus in die EU kommen. "Es gibt kaum Rückführungen, die das Wichtigste am EU-Türkei-Deal sind", sagte der parteilose Vournous und sieht als möglichen Grund dafür die Agenda der offenen Grenzen der Regierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras, der der linksgerichteten Partei Syriza angehört. "Die Regierung wurde wegen der Politik der offenen Grenzen gewählt, sodass sie die Umsetzung des Türkei-Deals nicht akzeptiert", erklärte er.

Regierung mache "ihren Job" nicht

Zudem gebe es viele legislative Probleme. "Ich habe seit dem Abschluss des Türkei-Deals noch keine ernsten Versuche gesehen, diese Probleme zu lösen", so Vournous. Die Regierung mache "ihren Job" nicht und habe ihre Flüchtlingspolitik nicht genau definiert. Auch seien die für die Umsetzung der Politik notwendigen Maßnahmen nicht getroffen worden. "Wir haben noch dieselben Diskussionen wie Ende 2015 über die Größe der Hotspots, die Infrastruktur im Hotspot, Räume für die Menschen und geschlossene Zentren – nichts davon ist umgesetzt worden", berichtete er.

Laut Vournous fehlen in den Hotspots auf den Inseln Infrastruktur und Personal. "Der Zeitraum, in dem die Anerkennung eines Asylverfahrens entschieden wird, sollte viel kürzer sein", sagte er. Zudem gebe es in den Auffanglagern lediglich Schlafplätze, aber keine Aufenthalts- oder Speiseräume. "Da die Flüchtlinge von uns aus nach ganz Europa gehen, sollten sie auch einen richtigen Eindruck von Europa in einem Hotspot haben – nämlich dass die Menschenrechte und die Menschenwürde respektiert wird. Das ist in den Hotspots nicht der Fall", sagte der Bürgermeister.

Kleines Dorf mit 500 Flüchtlingen

Die Größe des Hotspots im Relation zur Größe der Insel sei ebenfalls ein Problem. "Das Durcheinander wird auf die lokale Bevölkerung übertragen", klagte der Bürgermeister. "Um den Hotspot gibt es drei Dörfer, alle zusammen haben unter 1.000 Einwohner. In einem Dorf mit 200 bis 300 Einwohnern haben sie 500 Flüchtlinge und Migranten, die herumlaufen, weil sie nichts anderes zu tun haben", erklärte er weiter.

Dies kreiere Spannungen, weswegen es eine Protestwelle gegen die von Athen geplante Vergrößerung des Hotspots gebe. "Wir fordern, dass diese Zentren in Regionen mit mehr Platz verlagert werden", sagte Vournous und schlug eine Lösung auf dem griechischen Festland vor. "Die Inseln sind geschlossene Systeme – ökologisch, sozial, ökonomisch und auch gesellschaftlich", betonte er.

Unmut gegen Regierung

Der Unmut der Inselbevölkerung richtet sich laut Vournous aber nicht gegen die Flüchtlinge, sondern gegen die Regierung. Lediglich die rechtsradikale Partei "Goldene Morgenröte" versuche, gegen die Flüchtlinge Stimmung zu machen. "Ich bezweifle, dass es wirkliche Übergriffe – sei es auch nur verbal – gegen Flüchtlinge auf Chios gegeben hat", sagte er.

In der Flüchtlingsfrage dürfe man dennoch nicht "naiv" sein, betonte Vournous. "Jedem auf der Welt zu helfen wäre ideal, aber das ist nicht machbar – wir helfen jetzt auch nicht allen, sondern nur denjenigen, die das Geld haben, die Schmuggler zu bezahlen, die das Risiko auf sich nehmen, die die physischen Möglichkeiten haben", so der Bürgermeister weiter. "Wir glauben, dass wir unsere humanitären Pflichten erfüllen, wenn wir nur diejenigen versorgen, die bei uns ankommen", analysierte er. Manchmal müsse man hart zu sich sein und Regeln aufstellen, denn ohne Regeln kollabiere alles.

Vournous sieht hier Athen in der Verantwortung, die Menschen dementsprechend aufzuklären und die Maßstäbe, nicht nur in Bezug auf die Hotspots, sondern auf die gesamte Flüchtlingsfrage, festzulegen. "Genau deswegen gibt es auch das Misstrauen gegenüber den Regierungen, weil die Menschen die klaren Regeln nicht erkennen, die den Erwartungen der Gesellschaft entsprechen", sagte er.

EU-Mitglieder müssen "Beitrag leisten"

Von der EU forderte Vournous eine gemeinsame Asyl-, Migrations- und Grenzpolitik. Dies sei Voraussetzung für offene Grenzen innerhalb der EU und stelle die "humanitären und christlichen Werte sicher, auf denen unsere Gesellschaften basieren." Gleichzeitig rief er alle EU-Mitgliedsstaaten dazu auf, "ihren Beitrag zu leisten" und einen Anteil der Flüchtlinge aufzunehmen.

"Die Flüchtlingskrise war eine Herausforderung für die europäische Integration, aber wir werden sie definitiv überstehen, sonst löst sich die EU auf", gab sich der Bürgermeister zuversichtlich. "Die populistischen Ideologien, die in der vergangenen Zeit zugenommen haben, beziehen sich ja nur auf kurzfristige Phänomene", fuhr er fort und forderte vor allem junge Menschen dazu auf, sich mehr einzubringen. "Die Jungen müssen ihre Meinung äußern und auch klar darüber nachdenken, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. Sie müssen über Dinge nachdenken, die man in der EU als selbstverständlich erachtet, die aber vor 40 Jahren nicht selbstverständlich waren", schloss er. (APA, red, 2.2.2018)