Mit ihrem offenen Brief wollen 60 Mitglieder des Burgtheaters eine Veränderung für die Zukunft erreichen.

Foto: Georg Soulek/Burgtheater

Jeder wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte hat Anspruch darauf, "bis zu dem im gesetzlichen Verfahren erbrachten Nachweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten". So steht es in Artikel 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen. So ist auch unser Rechtsverständnis: Es gilt die Unschuldsvermutung. Erst ein fair geführter Prozess durch die unabhängige Justiz entscheidet, ob jemand schuldig ist oder nicht.

Anders verhält es sich bei Bewegungen, Kampagnen, Aufschreien, die über das Internet verbreitet werden. Beinahe jede Debatte auf Facebook hat das Potenzial zu entgleisen. Täglich aufwallende Shitstorms in der Empörungsmaschinerie gipfeln oft genug in Vorver- und Aburteilungen.

Die von Hollywood ausgehende #MeToo-Debatte ist eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Bewegungen der vergangenen Jahre, nichts kann die Verdienste der Initiatorinnen schmälern. Doch in ihrer Dynamik hat #MeToo durchaus auch Kollateralschäden zu verbuchen.

So kann man etwa einige Aspekte am tiefen Fall des Schauspielers Kevin Spacey kritisch sehen. Der House of Cards-Star hatte tatsächlich geglaubt, nach der ersten Anschuldigung durch ein Blitzouting und eine hastige Entschuldigung für "unangemessenes Verhalten im betrunkenen Zustand" seine Haut zu retten. Das gelang ihm nicht: Binnen weniger Tage enthüllten zehn Männer, von Spacey sexuell belästigt worden zu sein – einer erzählte von einer versuchten Vergewaltigung. Die Londoner Polizei ermittelt. Angeklagt ist Spacey aber (noch) nicht. Netflix reichte die Dichte der Vorwürfe: Spacey wurde gefeuert.

Ziel ist Veränderung

Das ist das gute Recht jedes privaten Unternehmens. Aber der Fall zeigt auch, dass die Öffentlichkeit den Schauspieler schuldiggesprochen hat, noch bevor ihm der Prozess gemacht wurde. In dieselbe Kategorie fallen pauschale Boykottaufrufe für Woody-Allen-Filme. Die Missbrauchsvorwürfe, die seine Adoptivtochter Dylan 2014 gegen ihn erhoben hat, wiegen schwer – dafür verurteilt wurde er nicht. Reicht aber der Verdacht gegen den Mann aus, um die Arbeit des Künstlers für immer zu ächten? Eindeutig lässt sich das nicht beantworten.

Einen Ausweg zeigen Initiativen wie #TimesUp oder #WeTogether, der neu gegründete Verein der ehemaligen Skisportlerin Nicola Werdenigg. Sie bauen auf #MeToo auf und befassen sich mit der grundsätzlichen Problematik von Machtmissbrauch und Unterdrückung in abgeschlossenen hierarchischen Systemen. Ihr Ziel ist nicht der Pranger, sondern Veränderung.

Dazu zählen auch das Manifest von 124 italienischen Künstlerinnen zur Bekämpfung von sexueller Belästigung und Übergriffen am Arbeitsplatz und der offene Brief von mehr als 60 Mitgliedern des Burgtheaters. Sie prangern nicht nur die Ära von Direktor Matthias Hartmann an, sondern wollen eine Veränderung für die Zukunft erreichen. Debatten wie diese können tatsächlich etwas Positives für die Zukunft bewirken – nicht nur für unmittelbar Betroffene.

Das Gegenteil fand kürzlich in Manchester statt. Als Tribut an die #MeToo-Bewegung hat dort eine Kunstgalerie ein Gemälde von John William Waterhouse aus dem Jahr 1896 abgehängt. Es zeigt unbekleidete Nymphen in einem Teich, die einen jungen Mann in den Tod ziehen. Angeblich ist das als Teil einer eigenen "Performance" zu verstehen. Man kann's auch übertreiben. (Petra Stuiber, 2.2.2018)