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Frankreichs Staatspräsident wird bei etlichen Kundgebungen und öffentlichen Debatten aufgefordert, des Jahres 1968 zu gedenken.

Foto: Reuters / Charles Platiau

Emmanuel Macron ist ein "Nachgeborener". 1977 auf die Welt gekommen, verspürt der bürgerlich erzogene Eliteschulabgänger nur eine beschränkte Nähe zu jenem historischen Studentenaufstand, der im Frühling 1968 von Paris aus Schockwellen durch ganz Frankreich und weit darüber hinaus geschickt hatte.

Das würde ihn an sich nicht daran hindern, eine große Gedenkzeremonie zu inszenieren: Frankreichs Staatspräsident mag solche Auftritte, an denen er sich als junger und doch geschichtsbewusster Einiger der Nation über den Parteien präsentieren kann. Auch der (1948 geborene) Sozialhistoriker Pascal Ory erklärt: "Wir sind alle Kinder des Mai ’68. Eine Gedenkfeier zu diesem Gründungsereignis versteht sich da von selbst."

Doch Macron zögert. Und je länger, desto mehr. Denn der Mai ’68 bleibt in Frankreich ein heißes Eisen. Das Ereignis liegt ein halbes Jahrhundert zurück, doch in Paris wird darüber zum Beginn des Jubeljahres mit einer Heftigkeit debattiert, als wären die Studenten und streikenden Arbeiter erst gestern auf die Straße gegangen. Mai ’68 fegte mit seinem Sponti-Anspruch nicht nur eine alte Gesellschaftsordnung weg, sondern verankerte den Rechts-links-Gegensatz fest in der französischen Konfliktkultur.

Romantische Ikonen und "Linksfaschos"

Als die sozialistische Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo jüngst Che Guevara anlässlich einer Gratisausstellung im Rathaus als "romantische Ikone" feierte, wurde sie von der Gegenseite mit Nettigkeiten wie "68er-Linksfascho" bedacht. Der konservative Politiker Maël de Calan schob nach: "Mai ’68, das ist der Sieg des Individuums über die Familie, das Kollektiv, die Autorität, die Regeln." Nicolas Sarkozy hatte seine ganze Präsidentschaftskampagne 2007 unter das Motto gestellt, er wolle "das Erbe des Mai ’68 liquidieren"; damit appellierte er an die gleiche schweigende Mehrheit, die im Juni 1968 den Wahltriumph der französischen Rechten gegen die Studenten und Streikenden ermöglicht hatte.

Macron wird sich erst langsam der Gefahr bewusst, noch 50 Jahre "danach" zwischen die Fronten zu geraten. Er mag jung und liberal sein, doch er tritt auch für die Autorität des Staates ein. Sein "vertikales" Staatsverständnis ist das ziemliche Gegenteil studentischer Selbstbestimmung. Um sich von Sarkozy abzugrenzen, hatte Macron noch im vergangenen Herbst erklärt, er könne sich sehr gut vorstellen, des Mai ’68 zu gedenken. Damals habe ja ein ähnlicher Geist wie im Prager Frühling des gleichen Jahres geweht.

Zwischen rechts und links

Mit dieser Bemerkung zog der Präsident aber nur den Zorn der Rechten auf sich: Diese erklärt, die Tschechen hätten sich gerade auch gegen jene Kommunisten erhoben, die in Paris auch auf die Straße gegangen seien. Die Linke wiederum wirft Macron vor, er wolle Mai ’68 für seine Zwecke vereinnahmen, so wie er sich im Wahlkampf um die Präsidentschaft der Unterstützung der 68er-Ikone Daniel Cohn-Bendit versichert habe.

Die geballte Kritik von allen Seiten macht die Élysée-Berater vorsichtig. Einer von ihnen erklärte, noch sei gar nicht sicher, ob der "Mai-Tage" in irgendeiner Form gedacht werde. Man wolle "nicht einfach Cohn-Bendit einen goldenen Pflasterstein überreichen". Hinter diesem Sarkasmus verbirgt sich auch eine zunehmende Unsicherheit. Wie soll die Nation Proteste zelebrieren, die ein ziemliches "chienlit" – wie de Gaulle das Chaos im Pariser Sorbonne-Viertel nannte – verursachten? Und was wäre vorrangig zu feiern – eher der damalige Sponti-Geist ("Es ist verboten zu verbieten") oder das sozialpolitisch bedeutsame Grenelle-Abkommen, das dem Generalstreik von Mitte Mai folgte?

Für den Mittepolitiker Macron stellt sich speziell die Frage, wo er sich positioniert. Seine Mühe, sich festzulegen, offenbart die Ambivalenz seiner ganzen Regierungslinie. Er will zwar bei der Linken nicht als "Präsident der Reichen" durchgehen, setzt aber selbst alle Hebel in Bewegung, um Streiks und Massendemonstrationen gegen seine eigenen Reformen zu vermeiden.

Versuchung und Risiko

Élysée-Insider berichten, der Präsident scheine mehr und mehr gewillt, die ganze 68er-Sause im Mai sein zu lassen. Das Gedenken an den Mai ’68 ist für den jungen Präsidenten eine Versuchung, sich als versöhnlicher Landesvater zu inszenieren – aber auch ein beträchtliches Risiko, seine politischen Gegner aufzuwecken.

Erkennbar wurde das Ende Jänner, als das Institut de France in diversen Kulturzentren eine "Nacht der Ideen" organisierte, um analog zu einer 68er-Devise "die Fantasie an die Macht" zu bringen. Monatelang vorbereitet, wurde die Operation zum Schluss diskret und gänzlich unpolitisch umgesetzt. Macron glänzte durch Abwesenheit – um die heutigen Studenten nicht auf dumme Ideen zu bringen? (Stefan Brändle aus Paris, 6.2.218)