Der Krisenreporter als Kanzlerbiograf: "Bild"-Chefreporter Paul Ronzheimer (re.) schrieb quasi eine Lebensabschnittsbiografie über Sebastian Kurz. 31 Jahre sind einmal resümiert, er wird ihn weiter beobachten. Fortsetzung folgt womöglich.

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Wien – Wenn Journalisten zu viel Nähe zu Politikern haben, ist das immer eine riskante Sache – vor allem für den Journalisten beziehungsweise die Journalistin. Denn meist wird der privilegierte Zugang zum Inner Circle vom politischen Personal aus bewusstem Kalkül eingeräumt, zumal, wenn dieser nicht nur die eigentliche "Zielperson" und deren berufliches Umfeld umfasst, sondern wenn auch Mama, Papa und sonstige freundlich gesinnte Zeugen aus dem privaten Umfeld aufgeboten werden, um dem externen Beobachter vermeintlich ein möglichst ganzheitliches Bild zu ermöglichen. Wer dieses Angebot bekommt, muss als Journalist aufpassen. In Österreich schwebt über so einer Konstellation das Verdikt der "Freunderlwirtschaft". In Deutschland würde man vielleicht von "Kumpels" sprechen. Das sollte man als Journalist/-in nicht sein, oder man ist in einem anderen Beruf besser aufgehoben.

Paul Ronzheimer, Politikchefreporter der "Bild"-Zeitung, bekam diesen besonderen und exklusiven Zugang zu einem "Wunderkind", nämlich zum Bundeskanzler der "Ösis", wie Deutschlands auflagenstärkste Boulevardzeitung die Bewohner in der Nachbarschaft gern nennt – und er wahrte Distanz, wie er Mittwochabend bei der Präsentation seines Buchs "Sebastian Kurz – Die Biografie" (Herder 2018) in der Buchhandlung Thalia Wien – W3 demonstrierte. Denn bei einer Diskussion zwischen dem Kanzler und seinem Biografen ging es unerwartet heftig zur Sache.

Zur Sache, Herr Kanzler!

Das lag vor allem am Krisen- und Kriegsreporter Ronzheimer, der wortreiche Ausweichmanöver des "besonderen 31-Jährigen" – Ronzheimers Argument, warum er überhaupt eine Lebensgeschichte, die erst drei Jahrzehnte und ein Jahr umfasst, schreiben wollte – bei heiklen oder unangenehmeren Themen immer wieder einfing und zum eigentlichen Thema zurückführte. Zur Sache, Herr Kanzler!

Begonnen hat das Gespräch – nach einer ersten Begegnung 2013 in Kiew am Maidan-Platz, wo Ronzheimer den damaligen österreichischen Außenminister traf: "Das ist ja wahnsinnig interessant, er ist ein Jahr jünger als ich!" – mit Wut. Und der Grund dafür war die Balkanroute, deren Schließung Kurz für sich beansprucht und auch diesmal wieder mit Nachdruck verteidigte. Der "Bild"-Reporter hingegen hatte seine eigenen Erfahrungen mit dem Flüchtlingstreck auf dieser Strecke gemacht: "Ich war voller Wut", sagte Ronzheimer, der zum Beispiel von "kleinen Babys, die im Dreck lagen" erzählte. Zurück in Berlin "traf ich den Mann, der dafür verantwortlich gemacht wurde, dass es den Menschen dort so schlecht ging".

Und sie haben gestritten, auch weil Kurz "immer sehr interessiert war, wie das denn dort war". Also erzählte ihm Ronzheimer von seinen Erlebnissen, berichtete von realen Lebensgeschichten, die auch im Buch erzählt werden – ob von ertrunkenen Flüchtlingen,von der Verzweiflung auf Flüchtlingsbooten bei der Überfahrt, vom Elend versklavter Afrikaner in libyschen Lagern.

Von Moral und Schande

Kurz bestätigte: "In dieser Frage waren wir sehr weit auseinander." Das sind sie nach wie vor. Der Kanzler und ÖVP-Chef räumte zwar ein, dass die Bilder von der Flüchtlingsbewegung "nicht leicht zu verdauen" waren, aber er sprach auch von der "moralischen Problematik", vor der er als Politiker stehe: "Auch wenn man gerne Menschen helfen würde, weiß man rational, dass noch mehr nachkommen und in dieselbe Situation geraten." Er war (und ist) "überzeugt, dass wir mit der Westbalkanroutenschließung das Richtige tun".

Ronzheimer, der 2015 mit einer Handykamera live über die "Flucht aus der Hölle" als Begleiter junger Syrer berichtete, sah (und sieht) das komplett anders: "Für mich als Reporter war das vor Ort eine Schande für Europa." Mittwochabend war es übrigens Ex-"Bild"-Chefredakteur Kai Diekmann, der vor Ort mit seinem Handy die Veranstaltung live streamte.

Ronzheimer führte das Thema Familiennachzug – bei den deutschen Koalitionsverhandlungen für die neue Regierung ein großes Streitthema, in Österreich nicht, "weil Sie sich von Anfang an viel strikter dagegen positioniert haben" (Ronzheimer zu Kurz) – als Beispiel an. Feras, im August 2015 23 Jahre alt und davor Wirtschaftsstudent in Syrien, habe in Deutschland "perfekt Deutsch gelernt – aber erst als seine Frau über die Familienzusammenführung nach Deutschland kommen durfte". Feras' Freund hingegen, ein Ingenieur, sei damit konfrontiert, dass dessen Frau nicht nachkommen dürfe, und sei nun "so verzweifelt, dass er nicht Deutsch lernen kann".

Suche nach Schutz oder besserem Leben

Der Journalist wollte damit auf Rahmenbedingungen für gelingende oder leichter gelingende Integration hinweisen – was Kurz allerdings nicht überzeugte. Im Gegenteil, er meinte: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Familiennachzug das Deutschlernen behindert." Das bescherte ihm den ersten Applaus von großen Teilen des Publikums, das die Aussagen des Kanzlers im Laufe der Veranstaltung noch öfter heftig beklatschte. Auch die Aussage, dass die "Grenze zwischen der Suche nach Schutz und der Suche nach einem besseren Leben" zunehmend verwischt worden sei, wurde vom Publikum akklamiert.

Die Frage Ronzheimers, ob der rigide Zugang beim Thema Familiennachzug "christliche Politik" sei, parierte Kurz so: "Ich kritisiere nicht Flüchtlinge, sondern immer nur das System. Wäre ich in so einer Situation, würde ich mich wahrscheinlich auch auf den Weg machen." Ihm gehe es vor allem darum, "wie krank dieses System ist und wie schlecht es funktioniert", wenn etwa Schlepper entscheiden, wer nach Europa kommen darf. Das Thema Familiennachzug werde dieses Problem nicht lösen, ist Kurz überzeugt.

Keine Hetze, keine Träumerei

Aber auch das Elend in libyschen Flüchtlingslagern relativierte Kurz mit Blick auf die Folgen einer Öffnung der Grenzen: "Wenn wir Menschen aufnehmen, dann kommt die nächste Million nach." Also lieber Resettlementprogramme, also handverlesene Aufnahme von Flüchtlingen, und Hilfe vor Ort – "aber gegen illegale Migration". Europa müsse "als EU Schutz bieten außerhalb Europas". Kurz warnte davor, in der Flüchtlingsfrage "die Bevölkerung zu überfordern", sagte aber auch: "Genauso, wie die Hetze falsch ist, ist die Träumerei falsch."

Ein anderes (Streit-)Thema war das Verhältnis zu Russland. Ronzheimer (er siezte Kurz durchgehend) vermisst vom österreichischen Kanzler (er duzte seinen Biografen streckenweise), "wie Sie Russland für die Angriffe in Syrien kritisieren. Die Grenzen sind zu, die Flüchtlinge in diesem Schlachthaus eingezirkelt. Ich habe den Eindruck, dass wir uns diese Fragen gar nicht mehr stellen." Kurz nahm die Kurve nach Europa: "Die europäische Syrienpolitik war nicht erfolgreich." Und Russland habe einfach Fakten geschaffen. Ronzheimer setzte später noch einmal nach: "Man hat das Gefühl, dass die Empathie mit Syrien völlig verlorengegangen ist. Das liegt auch an Politikern wie Ihnen."

Problematische Russland-Nähe

Das Thema Russland wurde dann auch noch innenpolitisch lanciert vom deutschen Reporter – und vom österreichischen Kanzler kalmierend pariert. Ronzheimer sprach nämlich an, dass "zweifellos eine Russland-Nähe in dieser Regierung zu erkennen ist, besonders durch die FPÖ" – und dennoch habe Kurz dem blauen Koalitionspartner "beide relevanten Sicherheitsministerien gegeben".

Gemeint waren Innen- und Verteidigungsministerium, und die blaue Russland-Nähe resultiert aus einem Übereinkommen, das die FPÖ im Dezember 2016 mit der Kreml-Partei Einiges Russland geschlossen hat. Ein Ziel dieser "Vereinbarung über Zusammenwirken und Kooperation" ist unter anderem die "Erziehung der jungen Generation im Geiste von Patriotismus und Arbeitsfreude".

Kurz wich den von Ronzheimer angesprochenen Bedenken von Geheimdiensten gegen diese Ministerienbesetzung ausgerechnet durch FPÖ-Vertreter zuerst mit einem Umweg über den österreichischen OSZE-Vorsitz aus, wurde aber von Ronzheimer an seine eigentliche Frage erinnert: "Das ändert ja nichts an der Nähe der FPÖ zum Kreml."

Der Kanzler verwies darauf, "Gesprächskanäle offenhalten" zu wollen – Richtung Westen und Osten. Er habe mit der FPÖ über das Thema gesprochen: "Es gibt die 100-prozentige Sicherheit, dass sensible Daten selbstverständlich nicht weitergegeben werden. Diese Kooperationsvereinbarung hat keine Auswirkung auf die Regierungspolitik."

Das alte und neue Nazi-Thema

Nicht ganz ohne Auswirkung auf die Regierungspolitik sind hingegen die immer wieder aufpoppenden "Einzelfälle" mit problematischem Rechtsdrall oder, wie Moderatorin Anna von Bayern mit Blick vor die türkis-blaue Zeit sagte: "Wenn es so ein Nazi-Thema gab, ging das früher mit der FPÖ nach Hause, jetzt auch mit Ihnen."

Der Bundeskanzler antwortete, ja, es habe "mehrere Fälle von widerwärtigem, Antisemitismus" gegeben, von Politikern, aber auch Privatpersonen, ja, das sei ein "Imageschaden", aber: "Wäre es besser, wenn es nicht aufgekommen wäre?" Nein, betonte Kurz: "Als Bundeskanzler bin ich natürlich unglücklich, wenn in internationalen Medien über sowas berichtet wird. Als Staatsbürger bin ich natürlich froh, wenn sowas empört."

Und wie weiter? "Niemand fällt tiefer als Wunderkinder", schrieb Ronzheimer in der Biografie. Er wird an Sebastian Kurz dran bleiben und freut sich darauf, "weiterzustreiten". Kurz sei zwar "ein besonderes 31-Jähriger", aber die Gefahr sei natürlich groß, "weil er hier in Österreich so geliebt wird, dass die Umfragewerte auch einmal nach unten gehen".

Der solcherart Angesprochene reagierte demonstrativ gelassen: "Was ich weiß, ist, dass man es nie allen recht machen kann. Und man soll's auch nicht allen recht machen", sagte Kanzler Kurz. Vielen Leuten in der Buchhandlung hat's gefallen. Die standen bei diesem Schlusswort draußen schon in Doppelreihen an, um ein Autogramm vom Kanzler zu bekommen. (Lisa Nimmervoll, 8.2.2018)