Hat trotz aller Krisensymptome, mit denen ihre Heldin ringt, einen Roman geschrieben, der von einer Selbstfindung handelt – und vom wiedergefundenen Schreiben: Angelika Klüssendorf (59).

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Angelika Klüssendorf, "Jahre später". € 17,50 / 160 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018

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Liebesgeschichten sind häufig Missverständnisse, im Idealfall sind die Missverständnisse produktiv, oft aber dauert es dann halt einfach ein paar Jahre, bis sie als solche begriffen werden.

Im Fall von April, der Hauptfigur von Angelika Klüssendorfs autobiografischem Roman Jahre später, dauert das Missverständnis mehr als ein Jahrzehnt. Bei der ersten Begegnung mit Ludwig sieht sie einen "Hausverwalter mit einem Kindergesicht". Er ist aber in Wirklichkeit Chirurg und sogar einer mit einer Passion für die Literatur. Er könne ein Treffen mit Beckett für sie arrangieren, verspricht er.

Seine erste Liebesgabe ist eine Erstausgabe von Warten auf Godot mit Widmung des Autors. Menschen mit ein bisschen Hausverstand müssten hier eigentlich schon misstrauisch werden über einen Arzt mit solchen Verbindungen, aber April ist eine junge Frau aus dem Osten. Sie möchte dem Chirurgen die Gedichte von Johannes Bobrowski nahebringen, doch der liest lieber Truman Capote (vor).

In die Beziehung mit Ludwig bringt April den halbwüchsigen Sohn Julius mit (der aber nur noch eine periphere Rolle im weiteren Verlauf des Romans spielt) und eine Vorgeschichte, die in den beiden Büchern Das Mädchen (2011) und April (2014) erzählt wurde. Mit Jahre später kommt damit eine Trilogie zustande, die auch an den Anfang zurückführt: Der letzte Satz in diesem Buch ist der erste aus Das Mädchen.

Hingabe und Scham

Julius wächst gleichsam aus dem dritten Buch heraus, denn April bekommt mit Ludwig einen zweiten Sohn, Samuel (genannt Sam). Die Zeit, bis Sam in die Pubertät kommt, macht die erzählte Zeit von Jahre später aus. Es ist auch die Zeit, in der Aprils Beziehung zu Ludwig scheitert, in der ein grausamer Scheidungskrieg ein halbwegs glimpfliches Ende findet und in der eine Schriftstellerin, die vorher schon eine war, zu einer Schriftstellerin wird, die den Mut findet, diese Geschichte zu erzählen.

Mit Ludwig hat es eine besondere Bewandtnis, die dem neuen Buch von Angelika Klüssendorf einen eigentümlich schillernden Charakter gibt, der ganz gut zu der männlichen Hauptfigur passt: Die literarische und publizistische Öffentlichkeit erkennt hinter der Verschlüsselung deutlich Frank Schirrmacher, den 2014 verstorbenen Starjournalisten von der FAZ, der zu dem Zeitpunkt, als er hier auf einer Lesung auftritt, noch am Anfang seiner Karriere stand.

Die Verschlüsselung hat gelegentlich etwas Frivoles ("Ludwig möchte Chefarzt werden"), in besonders intimen Angelegenheiten ist Klüssendorf aber doch konsequent, indem sie ihre subjektive Perspektive betont: "Seit Sams Geburt haben sie keinen Sex mehr gehabt, Hingabe ist für April mit Scham verbunden; in ihrer Seele sitzt ein Orchester aus beschädigten Spielern, die nur auf ihren Einsatz warten." An einer anderen Stelle leuchtet dann wieder etwas auf, was man recht unmittelbar auch auf die öffentliche Figur beziehen kann, die Schirrmacher abgab: "Ludwig führt mit großer Geste aus, wie die Hand seiner Großmutter Bismarck berührt haben könnte und diese nun wieder ihren Urenkel berührt: eine Verbindung über die Jahrhunderte hinweg."

Indiskrete Details

Wer sich allerdings von dem einen oder anderen indiskreten Detail ("Er ähnelt den Untoten aus seinen Computerspielen") versucht sehen möchte, Jahre später voyeuristisch zu lesen, wird zwar sicher an manchen Stellen Anhaltspunkte finden, muss aber bedenken, dass diese April eine latent psychotische Figur ist, eine Frau, der Figuren aus Filmen am Küchentisch begegnen und die mithilfe eines Psychotherapeuten und mit pharmazeutischer Unterstützung nach einem Halt im Leben sucht: "Aprils neue Tabletten in Verbindung mit Alkohol haben eine verheerende Wirkung bei ihr; sie beleidigt fremde Menschen, erwacht einmal frühmorgens auf dem Bürgersteig, zwei Straßen von ihrer Wohnung entfernt."

Trotz dieser Krisensymptome ist das aber eine Erzählung von einer Selbstfindung, die zur Literatur hinführt, dem (wiedergefundenen) Schreiben aber auch noch vorausliegt. Das mag eine Erklärung für den ambivalenten Eindruck sein, den Angelika Klüssendorfs Prosa hinterlässt: Sie klingt spröde, als wäre sie geprägt von einer tief sitzenden Skepsis gegenüber Beschreibungen, die mehr sind als nur momenthafte Epiphanien.

In den ersten beiden Bänden war das durchaus passend als Form für eine Subjektivität im Werden, in diesem Fall aber entsteht manchmal der Eindruck, dass die näher rückende Gegenwart (obwohl die Neunzigerjahre auch schon wieder ein Weilchen her sind) die Erzählerin Angelika Klüssendorf ein wenig hemmt: Sie gewinnt dann ihre Freiheit zwar in einem Absprung, dieser ist aber charakteristischerweise ein Sprung zurück in eine deutschdeutsche Vergangenheit.

Gerade die Spannung, die April aus ihrer Vergangenheit in der DDR in die Welt von Ludwig und in das wiedervereinigte Berlin mitbringt, bleibt in Jahre später eher unterbelichtet, aber letztlich führt zu einem bürgerlichen Realismus kein Weg zurück. Das ist letztlich auch eine Konsequenz aus der nachbürgerlichen Beziehung zu Ludwig, die als solche dann doch wieder ein (auch literarisch) produktives Missverständnis darstellt. (Bert Rebhandl, 11.2.2018)