Jochen Missfeldt, "Sturm und Stille". € 22,70 / 349 Seiten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2017

Foto: Rowohlt

Jochen Missfeldt, "Solsbüll". € 23,60 / 478 Seiten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2017

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Zwanzig Jahre lang war sie seine Geliebte, dann wurde sie doch noch Frau Storm: Dorothea (Doris) Jensen, von ihm liebevoll Do genannt. Anfangs trennt sie der Altersunterschied, sie ist zwölf Jahre jünger. Als Storm sich in sie verliebt, ist sie sechzehn, er hält sie allerdings für dreizehn. Seine Vorliebe für Kindfrauen ist bekannt, das weiß auch Doris. "Mit kleinen Mädchen hatte er es", gibt sie im Buch kund.

Der eigentliche Makel für die Gesellschaft ist ein anderer: Storm hat gerade erst geheiratet, als er die Beziehung mit Doris beginnt. Seine Frau Constanze ahnt vielleicht etwas, wahrt jedoch den Anschein, wie es die bessere Husumer Gesellschaft – zu ihr gehören die Jensens ebenso wie Storms Familie – erwartet. So kommt es, dass Doris zu Weihnachten für Constanze Telleruntersätze häkelt, und Storm darf ungeniert in einem Brief schreiben: "Man hat auch so seine stillen Amusements." Und das, wo alle so stolz auf die "Geradität" im Leben sind.

Nur an der Oberfläche 19. Jahrhundert

Als Constanze schwanger wird, geht es jedoch ernsthaft um den Ruf der Familien, und die Väter bestimmen: "Sie muss weg. Sie darf nicht hierblieben." Die Frau hat das Nachsehen – nicht der Mann, nicht Storm, der "hatte es gut, er durfte dichten. Ich musste gehen." Mamsell Jensen wird aufs Land abgeschoben, zunächst kommt sie gar zu Storms Schwiegereltern, dann ins Haus eines Pastors. Und es folgen weitere Stationen, die Verbannung dauert lange. Ein paar Mal kommt es noch zu heimlichen Treffen zwischen ihr und Storm, doch der drängt zur Räson und schweigt, die beiden sehen einander zehn Jahre lang nicht.

Gegen Ende des Buches heißt es einmal: "Eine Liebesgeschichte dauert nie zu lange" – Doris will offenbar das Gegenteil beweisen, sie ist eine ebenso selbstbewusste wie fast schon emanzipierte Frau, die sich von den Konventionen ihrer Zeit nicht unterkriegen lässt.

Nur an der Oberfläche sieht alles nach 19. Jahrhundert aus, erst recht, wenn es im Bett zur Sache geht: "Geleitet von Ruhe und Ordnung, Liebe und Frieden, nahm ich ihn also auf in meinen Schoß" – so schildert Doris das erste Mal. Was für ein schamvoller Satz. Von Sex ist in dem ganzen Buch nicht die Rede, vielmehr geht es um das "Erzählen danach": Von Storm dazu aufgefordert, erzählt Doris nach jedem Liebesakt eine Geschichte – diese kurzen dazwischengeschobenen Kapitel sind mit "Après" überschrieben, es gibt deren insgesamt sechs.

Nachempfindung

Überhaupt ist das Erzählen Sache der Frau. Missfeldt übergibt uns den Roman aus der Perspektive Dorotheas, er lässt sie die Geschichte erzählen, viele Jahre später, aus der Erinnerung und somit auch bereits in der Deutungshoheit über Storms Leben.

Aber um dieses geht es gar nicht, vielmehr um das Porträt einer außergewöhnlichen Frau, und da macht es gar nichts, dass das biografische Material dazu relativ dürr ist. Ein Tagebuch, obwohl der Roman aus einem solchen zitiert, gibt es nicht, lediglich ein paar Briefe geben Auskunft, der Rest ist Erfindung, oder wie es im Klappentext heißt: Nachempfindung. Nicht zuletzt, weil zahlreiche Details und einzelne Schauplätze aus Novellen Storms übernommen und hier unauffällig eingebaut sind. Zitierte Literaturwirklichkeit, die diesen Roman eindrucksvoll verdichtet.

Nun muss man wissen, dass Jochen Missfeldt auch ein großer Storm-Biograf ist, er selbst lebt an der Nordsee, und er kann meisterlich atmosphärisch schildern. Das alles ergibt, im Kontext von Storms Literatur, ein wunderbar sanftes Zeit- und Landschaftsbild. Zudem beherrscht Missfeldt einen klassischen, wohltuenden Erzählton – man glaubt sich bald selbst in einer Storm-Novelle und atmet, wenn man so will, literarische Nordseeluft. Dass das nicht gerade modernes Erzählen bedeutet, muss einen nicht stören, es ist eben ein sehr authentisches Porträt.

So könnte auch Storm beginnen

Apropos: Wie Storm in seinen Novellen hat auch Missfeldt um die Handlung einen Rahmen gebaut, und der spielt in der heutigen Zeit: "Längst bin ich eingetreten in den Herbst des Lebens." So könnte auch eine Novelle von Storm beginnen. "Ich" ist jener Gustav Hasse, der auch in Missfeldts anderen Romanen auftritt, das Alter Ego des Autors. In Sturm und Stille hat er nur eine Mittlerfunktion, indem er sich als Chronist, als der eigentliche Urheber der Geschichte deklariert, der hinter der Erzählerin steckt: "Ich bin es, der ihr die Worte in den Mund legt, das nehme ich mir heraus."

Dieser Gustav Hasse – ehemaliger Kampfflieger wie der Autor selbst – ist vor allem Protagonist und Erzähler in Missfeldts großem Deutschlandroman Solsbüll, eine stark autobiografische Familienchronik, die der Rowohlt-Verlag zeitgleich mit Sturm und Stille auf den Markt gebracht hat. Eigentlich sind es drei Generationen Hasse, Großvater, Vater und Sohn, alle drei heißen Gustav. "Gustav Hasse, der jüngste und letzte", springt in der Zeit herum, in der Familiengeschichte ebenso wie in der Welt von Theodor Storm.

Solsbüll ist kein neuer Roman. Als das Buch 1989 in einem kleinen bayrischen Verlag erschien, ging es in der Wendestimmung unter, offenbar war es der falsche Augenblick für einen großen Deutschland- und Generationenroman, der alles bereithält, was das "deutsche" Jahrhundert ausmacht: zwei Weltkriege, der Wahnsinn des Nationalismus, die humanitäre Katastrophe.

Die Frauen sind die Helden

Die Männer treten in dieser Geschichte zurück, sie bleiben im Krieg, die eigentlichen Helden sind die Frauen. Genau genommen Großmutter und Tante, die den 1941 geborenen "letzten" Gustav großziehen. Beide sind Hebammen, also Lebenshelferinnen und somit Antipoden zu den "Kriegsmännern". Sie bleiben aufrecht, wenn ihre Umgebung den menschlichen Niedergang probt.

Die ganze Zeitgeschichte dieses gewaltigen 20. Jahrhunderts spiegelt sich im Lebensschicksal der Frauen, das in einem kleinen Städtchen tief im Norden, zwischen Flensburg und Kiel, verortet ist. Die kleine Welt und die große Geschichte. Solsbüll ist zwar ein fiktiver Ort – er kommt übrigens auch in Sturm und Stille vor -, was sich dort zuträgt, ist freilich eine weltläufige Wirklichkeitssaga.

Sie gilt es ebenso zu entdecken wie den Autor Missfeldt, der 1975 mit einem Gedichtband reüssierte (wie geht das zusammen, Luftwaffenpilot und Lyriker?), ehe er später zum Romancier des Nordens wurde, der gekonnt Natur, Literatur und Zeitgeschichte verknüpft. (Gerhard Zeillinger, 14.2.2018)