Ina Hartwig, "Wer war Ingeborg Bachmann?". € 22,70 / 320 Seiten. S. Fischer, Frankfurt/Main 2017

Foto: S. Fischer

Ein wenig wirkt das Foto auf dem Cover, als würde Ingeborg Bachmann sich verstecken: Sie schaut hinter einer Mauerecke hervor, als wäre sie gerade erst entdeckt worden. Ina Hartwigs "Biographie in Bruchstücken" trägt den Titel Wer war Ingeborg Bachmann?, und sie ist nicht die Einzige, die sich derzeit auf die Suche nach dieser so schwer zu fassenden Persönlichkeit macht.

Vor kurzem erschien Helmut Böttigers Wir sagen uns Dunkles. Die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, 2017 kamen erste Bände der Salzburger Bachmann-Edition auf den Markt, deren erster Band Male Oscuro aufschlussreiche private Aufzeichnungen bietet.

Das Interesse ist groß, und das nicht nur, weil es sich um eine der bedeutendsten Dichterinnen deutscher Sprache handelt, sondern auch wegen der Mythen und Gerüchte, die sich um diese Frau ranken. Die Liebesbeziehungen zu Paul Celan und Max Frisch, das selbstbestimmte Sexualleben, der Alkohol, die Tabletten, der tragische Tod – Rätsel und Abgründe gibt es zur Genüge.

Sagenumwoben, von Tabus geprägt

Bei einer so sagenumwobenen, von Tabuthemen geprägten Biografie bewegt man sich auf dünnem Eis – immer hart an der Grenze zur Indiskretion, potenziell ständig unter Rechtfertigungszwang: Warum Verletzlichkeit und Verzweiflung, warum intimste Details einer Autorin an die Öffentlichkeit zerren, wo doch ihre Bücher alles erzählen, was sie preisgeben wollte?

Ina Hartwig hat, das sei vorneweg gesagt, einen sehr guten Weg gefunden, sich auf diesem Terrain zu bewegen. Sie hat eine Biografie geschrieben, die zu lesen sich lohnt. In insgesamt neun Bruchstücken nähert sie sich Ingeborg Bachmann. Die Kapitel beleuchten unterschiedliche Facetten, den rätselhaften Tod der Dichterin 1973 ebenso wie die schwierige Liebe zu Paul Celan, ihr ambivalentes Verhältnis zum Vater (einem NSDAP-Mitglied der ersten Stunde), die Beziehung zum ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger, ihre mediale Präsenz oder ihr reflektiertes politisches Engagement. Die desaströs endende Beziehung zu Max Frisch bekommt kein eigenes Kapitel, aber sie durchzieht das Buch wie ein Grundthema, taucht in Nebensätzen, Fußnoten, Zeitzeugenanmerkungen immer wieder auf.

Im Kapitel "Orgie und Heilung" geht es um das Sexualleben der Autorin. In Athen kommt es zu besagter Orgie, deren Teilnehmer neben Bachmann ihr Reisebegleiter Adolf Opel und zwei junge Griechen sind. Man kann, in abgewandelter Form, im Wüstenbuch davon lesen. Oder in Opels Erinnerungsbuch Wo mir das Lachen zurückgekommen ist ... Auf Reisen mit Ingeborg Bachmann, in dem er 2001 all die "skandalösen" Erlebnisse veröffentlichte.

Das andere Gesetz

Die Frage, ob es richtig oder nötig ist, intime Details aus dem Leben der Dichterin preiszugeben, stellt sich nicht mehr – sie sind bereits in der Welt. Hartwigs Verdienst ist, dass sie nicht nur nacherzählt, sondern dass sie diese Geschichte einordnet: "Wichtig – für uns – ist ohnehin weniger das Vorkommnis als solches als vielmehr die Frage, was es für Bachmann bedeutet. Wichtig an der Orgie ist ihre Funktion, auch ihre Wunschstruktur, die sich im literarischen Gestaltungsversuch offenbart."

Hartwig verharrt nicht in biografischen Details, sie zieht immer wieder die Linie zum literarischen Werk. Für die Autorin und Denkerin war die Orgie eben auch eine Möglichkeit, etwas darzustellen, das sie als das "andere Gesetz" bezeichnete: eine utopische Einheit, die Grenzen des Egos, des Geschlechts oder der Konvention zu überschreiten vermag. Adolf Opel ist, neben Marianne Frisch, Martin Walser oder Henry Kissinger, einer der Zeitzeugen, mit denen Hartwig gesprochen hat – im letzten Kapitel erzählt sie von diesen Begegnungen und Telefonaten.

Besonders hier zeigt sich, wie disparat die Wahrnehmung der Dichterin bereits zu Lebzeiten und selbst unter Freunden war. Hartwig versucht, und das ist die große Qualität dieses Buches, gar nicht erst, ein eindeutiges Bild der Autorin zu zeichnen. Sie lässt die vielen Facetten und Widersprüche nebeneinanderstehen, räumt auch kleinen Details wie jenen Ohrclips, die Bachmann der Fotografin Renate von Mangoldt in Rom schenkte, Platz ein: "Die Ohrclips begeistern mich kolossal, so herrlich geschmacklos, nein geschmackvoll, so exzentrisch und lustig, wie sie sind!"

Keine eindimensionale, tote Ikone präsentiert Ina Hartwig uns – sondern einen lebendigen, echten Menschen, dem man hier ein Stück weit näher kommen kann. (Andrea Heinz, 10.2.2018)