Astrachan im Oktober 2017 – Begutachtung einer Privatsammlung.

Foto: Paolo Sartori

Ein Qalandar, Sufi, im Usbekistan der 1940er-Jahre.

Foto: Archiv des Instituts für Ethnographie und Archäologie der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau

Die Hagiografie von Najm al-Din Kubra, Privatsammlung, Karakalpakstan, 1960er-Jahre.

Foto: Paolo Sartori

Es ist zehn Uhr in der Früh hier in Astrachan, und die Sicht aus dem Fenster des Staatsarchivs ist fade: ein leerer Parkplatz, eine Konservenfabrik mit rauchenden Schornsteinen und eine Bushaltestelle voller Menschen, die auf ihre Smartphones starren. Der Leseraum mit der für mein Lächeln unzugänglichen örtlichen Archivarin ist nicht weniger entmutigend. Als ich ihr meinen Bestellschein überreichte, fragte mich die Archivarin, warum ich denn eine so lange Strecke aus Wien hierher zurückgelegt habe. Ich spielte den Schlauberger und erklärte ihr, nach Dokumenten darüber auf der Suche zu sein, wie der Kult um islamische Heiliger in Russland einen Teil breiterer Netzwerke muslimischer Frömmigkeit repräsentierte, welche Mittelwolga mit Mittelasien verbanden.

Mit dem gleichen Desinteresse wandte sie sich an eine andere "laborantka" und grunzte mit einem herablassenden Tonfall: "Da haben wir den nächsten Bücherwurm hier, Ljuda, und dieses Mal aus Wien! Haben die dort nicht ihre eigenen Archive?" Die zwei Frauen kicherten, und ich stand vor ihnen wie ein Schulbub da; dann zeigte die Archivarin mit einer Befehlsgeste auf meinen Bestellschein. Ihre Augen bewegten sich auf der Liste hinauf und hinunter. Dann nahm sie ihre Brille ab und bemängelte, ich hätte "die falschen Karteien" gewählt. "Sie haben eine Bestellung für die sowjetische Periode aufgegeben, mein Lieber, aber da hat ja doch keiner an Heilige geglaubt!", lachte sie mich aus. Eine halbe Stunde später kamen die Akten, und da staunte sie ganz schön beim Anblick islamischer Heiligenleben, die unter dem sowjetischen Regime abgeschrieben wurden.

Sowjetischer Islam

Als die Sowjetunion in den frühen 1990er-Jahren auseinanderfiel, erinnerten sich nur wenige daran, dass ein wesentlicher Teil ihrer Bevölkerung aus Moslems bestand; und sogar noch wenigere wussten, dass die UdSSR einen Religionsraum dargestellt hatte und dass dieser Raum auch ein Haus für den Islam geboten hatte. Zentralasien, also das Gesamtterritorium dessen, was heute Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan heißt, war eine der am dichtesten bevölkerten Regionen der UdSSR, darüber hinaus ein Gebiet, auf dem islamische religiöse Übungen und intellektuelle Traditionen am beharrlichsten erhalten geblieben waren.

Die Archive und Handschriftenbibliotheken in Zentralasien laden ein, die soziale, kulturelle und politische Bedeutung des sowjetischen Islams zu erkunden. Allerdings ist es betrübend und hat etwas Ironisches an sich zu beobachten, dass unter allen Perioden in der Geschichte des islamischen Zentralasiens von der Eroberung durch die Araber bis zum chinesischen Projekt einer "Neuen Seidenstraße" jene Periode, die den sieben Jahrzehnten sowjetischen Regimes entspricht, die am wenigsten untersuchte Epoche der zentralasiatischen Geschichte ist.

Religiosität in der Sowjetunion ...

"Warum müssen wir überhaupt über die Religiosität der Moslems in der Sowjetunion nachdenken", kann man wohl fragen. Ich glaube, dass wir uns immer noch mit der Religion in der Sowjetunion und insbesondere mit dem Islam in Sowjetisch-Zentralasien beschäftigen sollten, weil wir in der Sowjetisierung eine der negativen Lektionen des 20. Jahrhunderts erblicken. Die Sowjetisierung bedeutet heute für viele, besonders in Zentralasien, ein gescheitertes gesellschaftliches und kulturelles Projekt. Mit anderen Worten ist der Begriff "Sowjetisierung" zum Synonym dessen geworden, was sich nicht wiederholen darf. Aber versucht man zu erklären, was es genau ist, das nicht nachgemacht werden darf, stehen wir gleich mehreren Herausforderungen gegenüber.

Erstens müssen wir mit der Tatsache klarkommen, dass bestimmte islamische Institutionen und religiöse Praktiken, die heute von zentralasiatischen Moslems als "traditionell" wahrgenommen und akzeptiert werden, ihre Ursprünge just in der sowjetischen Periode haben: Von der Form, in der die Muftis ihre Fatwas schreiben, bis zur Rede der Laien vom guten oder schlechten Islam, prägt der sowjetische Islam immer noch beträchtlich die Art und Weise, wie man sich heutzutage als Moslem erlebt. Zweitens: Wenn bei der Rede vom sowjetischen Islam unser Hauptaugenmerk auf den Formen des Autoritarismus liegt, dann müssen wir gleichermaßen anerkennen, dass die postsowjetische Periode und besonders die Ära nach dem 11. September die ohnehin vorhandenen Tendenzen in Richtung Normativität, Diskriminierung und Unterdrückung erst recht verschlimmert haben.

... und nach dem Verschwinden der UdSSR

Der häufigste Fehler, den man zu begehen pflegt, wenn man die Religion von der sowjetischen Geschichte entkoppelt, ist, dem sowjetischen Staat die exklusive Fähigkeit zuzuschreiben, Kultur zu produzieren, und deshalb anzunehmen, dass der Staat ein mächtiges und hegemoniales Wesen aufwies. In Wirklichkeit war der sowjetische Staat in Bezug auf das Gesellschaftsleben verhältnismäßig transformationsfähiger als fast jedes Regime vorher oder danach.

Jedoch hilft dies uns offensichtlich nicht viel weiter, wenn wir versuchen zu erklären, warum es für viele Zentralasiaten so natürlich war, nach dem Verschwinden der UdSSR ihre Weltanschauung in islamischen Termini zu fassen, ohne unbedingt jemals einer Wiederbelebung des Islams daheim oder im Ausland ausgesetzt worden zu sein. Oder wie es für Millionen von Menschen, die es gelernt hatten, sowjetische Staatsbürger zu sein, möglich war, auf eine andere Ideologie umzuschalten, ohne sich diese schon einmal zu eigen gemacht zu haben. War die Sowjetunion ein Hafen für einheimische Formen der Religiosität, die wir noch zu erkunden haben?

Islamische Kultur

Eine Möglichkeit, solche Fragen zu beantworten, ist mit der Beobachtung zu beginnen, dass die Geschichte nun einmal wirklich zählt. Diese trägt nämlich zur Erkenntnis bei, dass die sowjetische Periode bei allen Revolutionen, aller gewalttätiger Säkularisierung, bei allem Krieg und aller Modernisierung auch eine Epoche tiefgreifender Kontinuität gegenüber vergangenen Traditionen darstellte.

In der Tat sind die Archive in Zentralasien und Russland voller Unterlagen, welche unter dem säkularistischen Sowjetregime die Herausbildung einer islamischen Kultur zeigen: Begegnungen der Moslems mit der Vergangenheit und insbesondere mit dem, was sie als eine islamische Vergangenheit wahrnahmen, waren möglich. Für einige mögen diese Begegnungen mit der Vergangenheit eher zufällig gewesen sein. Aber für viele andere repräsentierte die Erforschung der Vergangenheit einen zielgerichteten, selbstbewussten und wiederholten emotionalen Akt.

Narrative über Heilige und Wundertaten

Die Zentralasiaten waren in der sowjetischen Zeit immer noch in der Lage, durch die erhalten gebliebene architektonische Präsenz des Islams auf die Vergangenheit zuzugreifen. Die monumentalen Standorte reichten jedoch den Moslems nicht aus, um die Vergangenheit zu verstehen und diese zur Konstruktion ihrer eigenen Identität zu verwenden. Solche Artefakte erhielten erst durch einen interpretativen Rahmen eine Bedeutung. Und dieser Rahmen wurde von Hagiografien, das heißt Narrativen über Heilige und deren Wundertaten, geliefert. Deshalb stellten die Schreine für Zentralasien einen kollektiven Gedächtnisort dar – einen Ort, an dem die Vergangenheit mittels Erzählung in die Gegenwart gerückt wurde.

Wenn wir also verstehen wollen, wie der Islam seine Stärke unter dem sowjetischen Regime bewahrte, sollten wir beginnen, die Verbundenheit der Zentralasiaten mit ihrer islamischen Geschichte zu schätzen – eine Geschichte, die aus Erzählungen von Heiligkeit besteht, welche durch Schreibpraktiken, hauptsächlich in Form von Handschriften, überliefert werden. Ein religiöser Text – und dies ist die Lektion, die ich aus meiner Archivarbeit ziehe – kann auf die Moderne einen langen Schatten werfen. (Paolo Sartori, 14.2.2018)