Wien – Gleich vier junge Männer sind vor dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Beate Matschnig, weil sich aus einem Streit in der U-Bahnlinie 1 ein Bauchstich auf der Straße in Wien-Favoriten entwickelt hat. Die wegen Mordversuchs beziehungsweise Beihilfe angeklagten Afghanen sind 17 bis 19 Jahre alt, unbescholten, drei von ihnen leben in derselben Wohngemeinschaft. Der Einfachheit halber werden ihre Gegner im Prozess nur "der Tschetschene" und "der Türke" genannt – die Sachlage ist nämlich einigermaßen unübersichtlich.

Staatsanwalt Wolfram Bauer wirft dem Erstangeklagten Seyar A. vor, er habe am 30. Mai gegen 20 Uhr seine beiden Kontrahenten erstechen wollen. Der Hintergrund: In der U-Bahn habe A. "dem Tschetschenen" Zelimhan Z. den Mittelfinger gezeigt, daraufhin eine Ohrfeige bekommen und es sei zu einer Rangelei zwischen A. und zwei Begleitern sowie Z. gekommen; in die Auseinandersetzung mischte sich ein weiterer Fahrgast, Mehmet S., vulgo "der Türke" ein.

Zwei Handyvideos von Zeugen

Unglücklicherweise verließen alle Beteiligten die Garnitur bei der Station Keplerplatz, die Auseinandersetzung ging daher an der Oberfläche weiter. Ein Anrainer filmte die Szenerie vom 4. Stock aus, ein weiterer Zeuge, der bereits in der U-Bahn auf den Vorfall aufmerksam geworden ist, zückte auf Straßenniveau sein Handy.

Zu sehen sind zunächst der Erst- und der Viertangeklagte, die sich mit "Türken" und "Tschetschenen" offenbar ein Wortgefecht liefern. Plötzlich rennen sie weg, der "Türke" läuft ihnen hinterher und schwingt seinen Gürtel über dem Kopf. Auch der Tschetschene bewegt sich in Richtung des Erstangeklagten.

Der Drittangeklagte, der zufällig erscheint, kommt erstmals ins Bild, als er mit dem "Türken" spricht und offensichtlich die Situation entschärfen will. Was er offenbar nicht weiß: In der Zwischenzeit hat der Viertangeklagte im Auftrag des Erstangeklagten einen Freund aus der nahen Wohngemeinschaft angerufen und gesagt, es gebe Streit, er solle ein Messer bringen.

Tatwaffe viermal weitergegeben

Aus Sicht der Anklage spielt sich nun eine Messerstafette ab: Der Zweite gibt dem Ersten das Messer, der läuft auf den "Türken" zu. Der "Tschetschene" umklammert ihn von hinten, worauf der Erstangeklagte die Waffe dem Zweitangeklagten zuwirft. Auch der wird vom "Tschetschenen" umklammert, schmeißt das Messer weg, der Drittangeklagte nimmt es auf und gibt es wieder dem Erstangeklagten.

"Man sieht ganz eindeutig erst einen Blickkontakt, dann dreht er das Messer um und gibt es A. mit der Klinge voran", kommentiert Bauer diese in Zeitlupe vorgespielte Aufnahme. Während A. wieder mit dem Messer in Richtung des bereits entfernter stehenden "Türken" läuft, habe der Drittangeklagte den "Tschetschenen" abgeblockt, ist der Ankläger überzeugt. Erstangeklagter A. wiederum habe erkannt, dass er den "Türken" nicht mehr erreichen kann und habe daraufhin dem "Tschetschenen" einen Bauchstich verpasst, ehe alle Afghanen flüchten.

A.s Verteidigerin Sonja Scheed interpretiert die Aufnahmen anders. "Es geht auch darum, was man nicht sieht!". "Der Tschetschene" habe ihren Mandanten in der U-Bahn zuerst angegriffen, auf der Straße seien Erst- und Viertangeklagter überzeugt gewesen, "der Türke" habe ein Messer. "Auch die Opfer hätten einfach nach Hause gehen können. Die Verletzung von Z. ist tragisch, aber mein Mandant wollte sich nur schützen", sagt Scheed.

"Will in Ruhe und Frieden leben"

Und ergänzt: "A. kam nach Österreich, um Schutz zu suchen. Er will hier in Ruhe und Frieden leben, offensichtlich gibt es Situationen, wo das Temperament durchgeht, aber er hatte nie eine Mordabsicht."

Der Erstangeklagte bestätigt das bei seiner Einvernahme und beteuert, Angst gehabt zu haben. "Warum nehmen Sie das Messer? Sie sind zu viert und es gibt einen einzigen Tschetschenen, der hat kein Messer?", fragt ihn Matschnig. "Ich hatte Angst vor dem Türken mit dem Messer." – "Und warum laufen Sie ihm dann nach, wenn Sie so Angst hatten?" – "Ich war so aggressiv", gibt A. in einem Nebensatz einmal zu.

Der Zweitangeklagte schafft es, Beisitzer Daniel Potmesil fast sprachlos zu machen. Der Teenager bekennt sich zwar dazu schuldig, das Messer zum Tatort gebracht zu haben. Aber: "Ich habe nicht gewusst, dass es in Österreich illegal ist, jemandem ein Messer zu geben." – "'Tschuldigung, was denken Sie sich dabei, wenn jemand von einem Streit berichtet und um ein Messer bittet?" – "Das ist normal."

Legale Messerattacken in Afghanistan

Denn: "In der Schule hier in Österreich hat jeder Ausländer ein Messer mitgehabt. Und in Afghanistan sticht man auch." – "Bitte Sie erzählen mir jetzt nicht, dass Sie dachten, eine Messerstecherei in Österreich sei legal? Ist es in Afghanistan erlaubt, Leute niederzustechen?" – "Ja", lautet die knappe Antwort, die die Dolmetscherin auflachen lässt.

Der Viertangeklagte sagt, er habe das Messer angefordert, um Waffengleichheit herzustellen. "Warum rufen Sie an? Sie hätten von dem Streit ja auch ganz einfach weggehen können?", wundert sich der zweite Beisitzer Andreas Böhm. "Wenn der Türke ein Messer hat, wollten wir auch eines", hört er. Durch die Intervention des Drittangeklagten habe sich die Situation aber eigentlich bereits beruhigt gehabt, daher wollte der Viertangeklagte den Lieferauftrag noch stornieren, erreichte den Zweitangeklagten aber nicht mehr, sagt er.

"Wollte das Messer nur los sein"

Der Drittangeklagte kann seine Version auf Deutsch und ziemlich plausibel darlegen. Er habe überhaupt nicht gewusst, was los sei und habe mit dem "Türken" gesprochen. Plötzlich sei das Messer im Spiel gewesen. Als er es in der Hand hatte, forderte der Erstangeklagte ihn auf, ihm die Waffe zu geben. "Ich wollte es nur los sein, es ging alles so schnell." Außerdem habe er gedacht, der "Türke" sei das potenzielle Opfer, er sei daher losgerannt, um diesen zu warnen.

Auf den Handyvideos sieht man tatsächlich, dass der Drittangeklagte mit Blick auf den Erstangeklagten läuft, dem "Tschetschenen", den er laut Ankläger abblocken wollte, aber den Rücken zukehrt. Der Drittangeklagte betont auch, er habe in der Wohngemeinschaft die Betreuerin gebeten, mit ihnen zur Polizei zu gehen.

Schon zu diesem Zeitpunkt ist klar, dass auf den 22. März vertagt werden muss, da der Verletzte und ein weiterer Zeuge nicht kommen können. Für den Drittangeklagten beantragt Verteidigerin Christine Wolf daher die Enthaftung, für Angeklagte Nummer zwei und vier erörtern die Berufsrichter diese Maßnahme von Amts wegen. Alle drei können ihre Zellen verlassen: Sie sind unter 18 und der Senat sieht keine Haftgründe mehr. (Michael Möseneder, 13.2.2018)