"Für die meisten Frauen ist das Leben hart. Es bedeutet, viel zu arbeiten – oft, ohne bezahlt zu werden", sagt Bina Argawal. Ihre Studien zeigen: Wenn mehr Frauen in Indien Grund besitzen, bringt das mehr Produktivität, weniger häusliche Gewalt und gesündere Kinder.

Foto: Getty Images / iStockphoto / Alpamayo-Photo

Bina Argawal: "Die meisten Bauern haben sehr wenig Land. Legen aber vier oder sechs ihre Länder zusammen, entsteht ein mittelgroßer Betrieb."

Foto: privat

STANDARD: Die #MeToo-Debatte zwang in jüngster Zeit mächtige Männer zum Rückzug. Wie sieht die Debatte in Indien aus?

Argawal: Noch bevor die #MeToo-Debatte in den USA ihren Ausgang nahm, gab es in Indien öffentlichkeitswirksame Fälle sexueller Belästigung. Rajendra Pachauri, Vorsitzender des Weltklimarats IPCC in der Zeit, als die Institution 2007 den Nobelpreis bekam, wurde etwa verurteilt. Es gab mindestens drei große Fälle, in denen öffentliche Personen zurücktreten oder sich in einem Gerichtsprozess verantworten mussten. Im Zuge der #MeToo-Debatte gab es weniger aufsehenerregende Fälle. Aber ich glaube, dass sie auch in Indien mehr Frauen ermutigt, ihre Stimme zu erheben.

STANDARD: Viele Ihrer Studien behandeln die Situation von Frauen in Landregionen Südasiens. Wie sieht deren Leben aus?

Argawal: Für die meisten Frauen ist das Leben hart. Es bedeutet, sehr viel zu arbeiten – oft, ohne bezahlt zu werden. Frauen kümmern sich nicht nur um Kinder und Ältere, sondern arbeiten auch auf den Feldern und sammeln Feuerholz und Futter für Nutztiere. Wer nicht genug Holz hat, kann am Abend nicht kochen. Die sozialen Normen unterscheiden sich aber auch. Besucht man ein Dorf in Nordindien, sieht man manche Frauen, die ihr Gesicht verschleiern – nicht Musliminnen, sondern Hindufrauen. Andere haben dagegen keinen Schleier. Die Verschleierten sind die Schwiegertöchter, die in das Dorf geheiratet haben. Sie müssen ihr Gesicht vor allen Älteren verbergen – Männer und Frauen -, um ihnen Respekt zu erweisen. Frauen ohne Schleier sind Töchter, die hier im Dorf geboren sind. Sie können sich viel freier bewegen. Im Süden gibt es diese Unterscheidung nicht.

STANDARD: Für Sie ist Landbesitz ein wichtiger Faktor, um die Position von Frauen in der Gesellschaft zu verändern. Inwiefern?

Argawal: Grund und Boden ist in Ländern wie Indien mit ihrer kleinbäuerlichen Struktur die wichtigste Form von Besitz. In manchen Ländern Asiens ist die Hälfte der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte weiblich. Mehr Männer ziehen weg. Hat man Besitz, kann man Kredite aufnehmen. Man kommt eher an öffentliche Hilfsgelder. Wenn die Frauen aber kein eigenes Land besitzen, beeinflusst das die Produktivität.

STANDARD: Wie verändert sich damit das Verhältnis zwischen den Geschlechtern?

Argawal: Wir haben herausgefunden, dass Frauen, die Land besitzen, viel weniger oft Opfer häuslicher Gewalt werden. Wir haben die Studie in Kerala in Südindien gemacht, einer Region, in der Frauen vergleichsweise gut gestellt und gebildet sind. Wir haben zufällig 500 Haushalte ausgewählt. Fast die Hälfte der besitzlosen Frauen gaben an, dass sie von ihren Männern geschlagen werden. Von jenen, die selbst Land oder Haus besitzen, berichteten nur sieben Prozent von häuslicher Gewalt – ein riesiger Unterschied.

STANDARD: Wie verändert sich das Familienleben?

Argawal: Frauen geben ihr Einkommen eher für die Familie aus. Die Kinder sind gesünder. Die Kindersterblichkeit ist geringer, die Wahrscheinlichkeit, dass sie in die Schule gehen, höher. Wenn es Frauen wirtschaftlich besser geht, engagieren sie sich zudem eher in der lokalen Politik.

STANDARD: Welche Maßnahmen verhelfen mehr Frauen zu Besitz?

Argawal: Manchmal wird Land an arme Familien gegeben, hier kommen Frauen mittlerweile öfter zum Zug. In manchen Teilen Indiens wurde versucht, geförderte Kredite an Frauen zu vergeben, um an Land zu kommen. Das hat gut funktioniert. Eine bessere Umsetzung der Erbschaftsgesetze wäre wichtig. Früher hatten nur Söhne Anrecht auf Familienbesitz. Seit 2005 – nach einer Kampagne zur Abänderung der Hindu-Erbgesetze, für ich mich engagiert habe, haben Söhne und Töchter gleiches Geburtsrecht. Frauen erhalten aber nach wie vor oft nicht den Anteil, der ihnen zusteht.

STANDARD: Ein anderes Projekt dreht sich um den positiven Einfluss von Frauen bei der Waldbewirtschaftung in Indien. Wie erklären Sie sich diesen?

Argawal: Viel öffentlicher Waldbesitz wurde zerstört, weil Kontrolle fehlte. Also gab man Waldflächen an lokale Dorfgemeinschaften zur Bewirtschaftung. Typischerweise war das Männersache. In einigen Fällen waren auch Frauen dabei. Ich untersuchte, wie sich ihre Anteilnahme auf den Zustand des Waldes auswirkte – und fand große Unterschiede: Kronenschluss und Biodiversität verbesserten sich signifikant. Frauen gehen jeden Tag in den Wald, um Holz und Tierfutter zu sammeln. Sind sie nicht Teil der Entscheidungsprozesse, missachten sie eher die Regeln und schädigen den Wald. Sie bringen aber auch anderes Wissen ein. Gemeinsam wird die Perspektive auf den Wald umfassender.

STANDARD: Im Moment widmen Sie sich Agrargemeinschaften. Worum geht es da?

Argawal: Die meisten Bauern haben sehr wenig Land. Legen aber vier oder sechs ihre Länder zusammen, kann ein mittelgroßer Betrieb entstehen. Das hat Vorteile: Man kann nicht nur im größeren Stil produzieren, sondern auch billiger einkaufen und besser verhandeln. Das könnte eine Alternative zu Familienbetrieben und großen Agrarunternehmen sein. Theoretisch sind die Vorteile klar, ich wollte sie aber in der Praxis studieren. Ein Ergebnis aus Kerala ist, dass Gemeinschaften – sie bestehen hier nur aus Frauen – insgesamt das Eineinhalbfache der Summe der Familienbetriebe hervorbrachten. Es gibt also viel Potenzial.

STANDARD: Ihre Arbeit zeichnet unter anderem ein sehr interdisziplinärer Zugang aus. Wie gehen Sie methodisch vor?

Argawal: Ich versuche Probleme in all ihren Dimensionen zu erfassen. Als ich zu den Besitzverhältnissen von Frauen geforscht habe, zeigte der wirtschaftliche Zugang, warum Landbesitz wichtig ist. Wenn man fragt, was zum ungleichen Zugang zu Land führt, muss man sich mit dem Erbrecht beschäftigen. Dann stellt sich die Frage, warum der Unterschied zwischen Gesetz und Praxis so groß ist. Das hat mich zur Sozialanthropologie geführt, die Aufschluss über Umstände und Muster von Eheschließungen geben kann. Dann fragt man: Was kann zu Veränderungen der Gesetze führen? Das führt in die Geschichte, etwa wie regionale Unterschiede entstanden sind. Warum haben Frauen in Nordindien weniger Rechte als im Süden Asiens? Das führte mich bis zu Rechtsschriften aus dem zwölften Jahrhundert. Meine Art zu arbeiten ist wie die eines Detektivs. Eine Frage führt zur nächsten.

STANDARD: Kann aus Ihren Ergebnissen in Indien auch Europa etwas lernen?

Argawal: Wir haben etwa eine große Anzahl kleiner Gemeinschaften, die ihre Lage verbessern wollen. Die Leute legten Ersparnisse zusammen und nehmen Kredite auf. Das kann die Basis für ein Unternehmen sein. Viele dieser Gruppen engagieren sich für ihre Communitys. Sie lobbyieren für die Leute bei der regionalen Verwaltung, wenn Straßen schlecht sind oder der Brunnen versiegt. Diese Gruppen schlossen sich zu immer größeren Organisationen – bis auf eine nationale Ebene – zusammen und können so Einfluss auf die Politik des Staates haben. Derartige Strukturen könnte man auch in anderen Ländern anwenden. (Alois Pumhösel, 16.2.2018)