Wenn die trommelnden Bateristas den Sambatakt vorgeben und die Tänzerinnen mit ihren knappen Paillettenkostümen das Publikum zum Mittanzen animieren, erstrahlt in Rios Sambastadion eine glitzernde Scheinwelt – zumindest für ein paar Stunden. Das bunte Fest lässt die Tristesse des Alltags vergessen. Politische Botschaften oder gar Kritik an den Regierenden waren nach einer stillen Übereinkunft der Sambaschulen nicht vorgesehen, so zumindest war es bis vor kurzem. Doch dieses Jahr ist alles anders.

Neben den üblichen üppigen Kostümen sorgten Sambaschulen heuer auch mit der Inszenierung der täglichen Gewalt in Rio für Aufsehen im Sambódromo.
Foto: APA/AFP/Mauro Pimentel

Rio de Janeiro erlebte seinen politischsten Karneval mit bitterböser Kritik am Establishment, an der Korruption und der sozialen Ungleichheit im Land. "Nur einmal zuvor, zum Ende der Militärdiktatur in den 80er-Jahren, haben die Sambaschulen sich so kritisch gezeigt", sagt Leonardo Bruno, Karnevalist und Juror.

Bürgermeister reiste ab

Während sich in den Jahren zuvor in den VIP-Zelten im Sambastadion die Politprominenz tummelte, blieben die Plätze dieses Jahr leer. Rios Bürgermeister Marcelo Crivella, ein evangelikaler Pastor, verabscheut den Karneval und strich den Sambaschulen einen Großteil ihrer Subventionen. Demonstrativ reiste er nach einem Kurzbesuch bei der Parade nach Deutschland zu einem Wirtschaftstreffen.

Dennoch war Crivella in Rio stets dabei: Er fuhr etwa als Marionette mit zugestopftem Mund auf dem Karnevalswagen der traditionsreichen Sambaschule Mangueira mit.

Sklaven und Vampire

Paraíso do Tuiuti, eine Sambaschule aus der gleichnamigen Favela, ließ an Ketten gefesselte Sklaven durch das Sambódromo ziehen und kritisierte so den Rassismus in Brasilien. Staatspräsident Michel Temer thronte als Vampir in acht Meter Höhe auf einem Umzugswagen, eine Anspielung darauf, wie seine Gesetzgebung den arbeitenden Menschen das Blut aussaugt.

Den Livekommentatoren bei Brasiliens größtem TV-Sender O Globo verschlug es ob der deutlichen Kritik für einen Moment die Sprache. In den sozialen Netzwerken wurde Paraíso de Tuiuti jedoch für ihren Mut gefeiert.

Mit bisher 13 Siegertiteln ist Beija-Flor die erfolgreichste Sambaschule. Sie machte dieses Jahr die tägliche Gewalt in Rio und die ausufernde Korruption zum Thema. Auf einem Wagen wurde eine Beerdigung nachgebildet: Hunderte unbeteiligte Favela-Bewohner kommen bei Schießereien der Drogengangs in Rio pro Jahr ums Leben. Als Kontrast fuhr eine luxuriös gedeckte Speisetafel durch das Karnevalstadion, die den dekadenten Lebensstil von korrupten Unternehmern und dem inzwischen inhaftierten Exgouverneur Sérgio Cabral zeigt.

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Manchen Politikern in Brasilien ist die übliche Pracht des Karnevals lieber als gesellschaftspolitische Kritik.
Foto: AP Leo Correa

Realität in den Favelas

Prompt meldeten sich Politiker zu Wort, die das Nationalheiligtum Karneval durch derlei Kritik beschmutzt sehen und eine Initiative im Kongress gegen politische Botschaften beim offiziellen Karneval in Rio fordern.

In Rio de Janeiro gibt es 102 Sambaschulen, die sich das ganze Jahr auf die Parade im Februar vorbereiten. Die jeweils zwölf besten Schulen zeigen ihre Show im Sambastadion vor den Augen einer kritischen Jury und rund 85.000 Zuschauern.

Sambaschulen sind in vielen Armenvierteln der einzige Arbeitgeber und zugleich sozialer Treffpunkt. Die Mütter schicken ihre Kinder dort in Tanzkurse, damit sie den Drogengangs fernbleiben. Sie selbst sitzen an der Nähmaschine und fertigen die aufwendigen Kostüme. Die Männer schweißen die riesigen Umzugswagen zusammen und bauen aus Styropor die kunstvollen meterhohen Figuren.

Sechs Millionen Feiernde

"Die Sambaschulen reflektieren die soziale Realität", sagt Karnevalist Leonardo Bruno. "Sie sind etwas ganz Besonderes, denn einmal im Jahr stehen die Bewohner der Favelas im Mittelpunkt."

Die diesjährigen Gewinner werden heute, Mittwoch, verkündet. Insgesamt kamen heuer zum Karneval in Rio rund sechs Millionen Feiernde, 1,5 Millionen davon waren Touristen. Mehr als 17.000 zusätzliche Polizisten waren im Einsatz. (Susann Kreutzmann, 13.2.2018)