Peter Rosei (71) schreibt mit "Karst" konsequent am Gesellschaftspanorama unserer Gegenwart weiter. Der Wiener Rathausmann wacht wohlgefällig über den Dichter.

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Peter Rosei: "Karst". Roman. € 22,- / 180 Seiten. Residenz, Salzburg-Wien 2018

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Wien – Die Figuren des großen heimischen Romanciers Peter Rosei kommen meistens viel herum. Da ist Jana, die Slowakin vom "Saum" der Karpaten. Als Tochter eines Hotelbetreibers, der rascher und vor allem vollständiger verfällt als das ihm anvertraute Haus, nützt sie die Gunst der historischen Stunde. Über den Umweg von Budapest schlüpft sie nach Wien. Dort verwirklicht sie an der Seite eines mediokren Geschäftemachers namens Gstettner ("Nichts Besonderes, beileibe nicht!") ihre Vorstellungen vom sinnbefreiten Leben. Müßiggang ist ihr Laster, mehr noch aber bildet er den Ausgangspunkt ihres Niedergangs.

Georg Kalman, der alternde Theaterkritiker, hat hingegen einen engeren Wirkungskreis. Die Ahnung von der eigenen Endlichkeit sitzt diesem routinierten Prasser schwer im Genick. Rosei ist seinen Helden in Karst, seinem neuen Roman, ein treusorgender Anwalt, tückisch und freundlich. Er lässt Kalman, den eleganten Witwer, aus Anlass eines Begräbnisses die Mitmenschen als Idioten abstempeln: "Vom Sterben, vom Tod haben die meisten ja doch keine Ahnung. Sie sind oberflächlich, daseinsvernarrt."

Der Triumph, es besser zu wissen als alle anderen und dennoch das Gefühl zu haben, zu kurz zu kommen, ist die Denkfigur dieser zu Lebzeiten Verlorenen. Kalman reist nach Venedig und schließt dort, des flüchtigen Reizes wegen, einen slowenischen Nobelkellner in die Arme. Die Folgen dieses Abenteuers machen ihm wenig später noch in Wien zu schaffen.

Mit leichtem Gepäck

Roseis Figuren besitzen eigentlich alle Anlagen, die sie zum Glücklichsein befähigen müssten. Sie wären zynisch und smart genug, um die Gesetzmäßigkeiten des Neoliberalismus zu durchschauen. Doch haben sie von den Mechanismen der Wertschöpfung, die ihren Wohlstand ausmachen, eine zu große und gleichzeitig zu feierliche Vorstellung, als dass sie selbst es zum Beispiel mit "echter" Arbeit probieren wollten.

Zugleich reisen diese Versprengten des Turbokapitalismus konsequent mit viel zu leichtem Gepäck (und sei es bloß von Döbling hinein in die Innere Stadt). Mit seinen letzten vier, fünf Büchern webt Rosei an einem Gesellschaftsteppich, der – auf den ersten Blick – in den Farben des Frohsinns schillert. Keine Einsicht darf an das Postulat rühren, unsere Gesellschaft halte für jeden, der ihr zuzugehören wünscht, ein Glücksversprechen parat.

Jedenfalls – und hierin liegt Roseis Genie – hat es den Anschein, es wäre für jeden ausreichend Lebenssinn vorhanden. Der eigentliche Speicher, aus dem die Karst-Figuren schöpfen, ist das Nähkästchen. Aus ihm plaudern sie. Der Erzähler jubelt seinen Taugenichtsen die epochalsten Kalenderweisheiten unter. Man "klammert sich" dann "an alles, was nützt". Eine Femme fatale wie die schöne Jana schlüpft in Lebensrollen, die sich allenfalls die Schulweisheit träumen lässt: "Sie lebte an seiner Seite, wie man sagt."

Ausdruck im Überfluss

So sagt man eben, wenn man es nicht besser zu sagen weiß. Ausdrucksmittel sind in diesem Kosmos der Schmalspurigkeit für alle im Überfluss vorhanden. Es besagt halt nicht viel, wenn man etwas in etwa so sagt wie eine durchschnittliche Figur des gehobenen bürgerlichen Realismus.

Rosei lässt sich hohnlachend hinter Gustave Flaubert zurückfallen, eben damit das Hohngelächter ein für alle Mal ersterbe. Er überholt durch diese seine Kunsttechnik aber auch – auf nicht einmal 180 Seiten – die Masse der Konfektionsschreiber, die mit ihrer mürben Einfühlung gewaltsam auf die Shortlists der deutsch-österreichischen Buchpreise drängen.

Ein alter Meister demonstriert, wie es gemacht wird: eben indem er zeigt, dass nichts damit erreicht ist, wenn man es sagt, wie es alle sagen. Oder soll man – Achtung: Spoiler! – sagen, dass es mit Kalman kein gutes Ende nimmt in Karst? Dass die Verstrickung der handelnden Personen diese zurückführt, vorbei an Triest, heim nach Piran? Man sollte nicht. Man muss dieses famose Buch lesen, um zu wissen, wie es um uns Besserwisser bestellt ist. Ein kleines, ein meisterliches Werk. (Ronald Pohl, 14.2.2018)