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Milanović fordert, dass Vermögen höher besteuert werden.

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Milanović: Italien ist ein fantastisches Land und steigt dennoch ab.

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Branko Milanović zählt zu den weltweit anerkanntesten Wissenschaftern, die zu Fragen der Verteilungsgleichheit forschen. Berühmt wurde er vor allem durch seine Arbeiten zu den Auswirkungen der Globalisierung auf die Einkommen in Industriestaaten und Schwellenländern. Milanović ist schwer in das links-rechts Schema einzuordnen – was ihn als Forscher so spannend macht.

STANDARD: Sie haben vor kurzem in einem Beitrag geschrieben, dass die globalen Eliten zunehmend eine Politik wie im 19. Jahrhundert verfolgen, wenn es um industrielle Beziehungen und Steuergesetzgebung geht. Wie kommen Sie darauf?

Milanović: Das war eine Reaktion auf das diesjährige Treffen des Weltwirtschaftsforums in Davos. Seit inzwischen acht Jahren ist die wachsende Ungleichheit das bestimmende Thema dort. Jedes Jahr beklagen die Manager der wichtigsten globalen Unternehmen in dem Schweizer Bergdorf die Entwicklung, und dennoch ändert sich nichts, im Gegenteil. Die Leute fahren nach Hause und zahlen Lobbyisten dafür, dass sie gegen strengere Steuergesetze kämpfen.

STANDARD: Und wo orten Sie die Rückkehr ins 19. Jahrhundert?

Milanović: Werfen Sie einen Blick auf die USA. Walmart, Amazon und andere Großkonzerne verbieten die gewerkschaftliche Organisation der Mitarbeiter innerhalb ihrer Unternehmen. Wer dort zu arbeiten beginnt, muss Vertragsklauseln unterschreiben, die ihn zur Verschwiegenheit über Bedingungen verpflichten. In der "New York Times" und im "Guardian" sind zahlreiche Berichte darüber erschienen, wie in den erwähnten Unternehmen Mitarbeiter vor Erschöpfung umfallen. Das sind alles Dinge, die man im 21. Jahrhundert nicht erwarten würde. Dann gibt es die Tendenz zur Bildung von Monopolen: Denken Sie an die dominante Stellung von IT-Unternehmen wie Google. Hinzu kommt eine völlig rückwärtsgewandte Steuerpolitik: In den USA wurden soeben die Reichen entlastet. Das ist doch eine kapitalistische Politik wie im 19. Jahrhundert.

STANDARD: Sie forschen zu Verteilungsfragen. Ihre Kernthese: Die Mittelschicht in Europa und den USA hat vom Wachstum des Einkommens seit den 1980ern nicht profitiert. Gewinner waren die Mittelschichten in China und Indien und die reichsten fünf Prozent. Ändert sich an diesem Befund etwas?

Milanović: Nein, und das wird auf absehbare Zeit so bleiben. Das Wirtschaftswachstum in Indien und China liegt bei sechs bis sieben Prozent. Das ist eine deutlich dynamischere Entwicklung als in den meisten Industrieländern. Die obere Mittelschicht in China rückt im globalen Wohlstandsranking nach vorn und wird in naher Zukunft die unteren Mittelschichten in einigen Industrieländern überholen.

STANDARD: Für China ist das eine gute Nachricht. Sehen Sie darin ein Problem für Europa, die USA?

Milanović: Italien ist ein Paradebeispiel, an dem sich über diese Frage gut streiten lässt. Betrachtet man die Weltgeschichte, lässt sich sagen, dass es wohl noch nie eine Gruppe von Menschen gegeben hat, die so ein gutes Leben geführt haben wie die Italiener heute. Die Einkommen sind im historischen Vergleich hoch. Die Arbeitslosigkeit moderat. Massenarmut wie in der Vergangenheit gibt es nicht, das Wetter ist ebenso fantastisch wie das Essen, die Menschen haben Anspruch auf viel Urlaub. Sie können also sagen, es ist gleichgültig, dass sich Italien im globalen Vergleich in einem kontinuierlichen Abstieg befindet. Sie können es aber auch als ein Problem für das Land sehen.

STANDARD: Woran machen Sie diesen Abstieg überhaupt fest?

Milanović: Vor zwanzig Jahren war Italiens Wirtschaftsleistung pro Kopf dreimal so hoch wie der globale Durchschnitt, heute macht sie nur mehr das Zweifache aus. In zwanzig Jahren wird Italien auf den globalen Durchschnittswert zurückgefallen sein. Eine Folge des Aufstiegs von Asien ist ein Umkehreffekt: Nicht mehr die europäische Mittelklasse wird nach Thailand auf Urlaub reisen, das wird sie sich nicht mehr leisten können. Die Thailänder werden kommen. Nicht Europäer werden Immobilien kaufen, sondern ihre Immobilien werden ihnen weggekauft werden. Man muss sich darauf einstellen.

STANDARD: Während die globale Kluft zwischen Arm und Reich sinkt, wächst sie innerhalb der meisten Industrieländer. Sind damit Verwerfungen verbunden?

Milanović: Die steigende Ungleichheit und die Tatsache, dass große Bevölkerungsteile, insbesondere in den USA und in Großbritannien, nicht mehr vom Wachstum profitieren, führen zu einem Erstarken des Pluto-Populismus.

STANDARD: Pluto-Populismus?

Milanović: Donald Trump steht repräsentativ dafür: Man kann nicht behaupten, dass er eine populistische Politik betreibt. Er verspricht der Bevölkerung zwar ständig alles Mögliche. Dann senkt er aber die Steuern für Reiche und sorgt für eine Politik der Deregulierung bei Unternehmen.

STANDARD: Ist Reichtum so konzentriert, dass man sich um die Demokratie sorgen muss?

Milanović: Wir müssen einen Weg finden, um hohe Einkommen und große Vermögen höher zu besteuern. Das wäre erstrebenswert. Nicht nur weil dann etwas Geld da wäre, um Aufstiegschancen zu stärken. Es geht auch um ein Signal, dass die Gesellschaft ein bestimmtes Maß an Reichtumskonzentration wenn auch nicht verbietet, so doch ablehnt. Die Erbschaftssteuer zum Beispiel ist in den vergangenen Jahren in vielen Ländern gesenkt oder abgeschafft worden. Diesen Trend sollte man umkehren. Das Problem, das ich allerdings sehe, ist, dass wenn einzelne Staaten beginnen, Kapital und Kapitaltransfers höher zu besteuern, das Kapital in andere Länder transferiert werden wird. Vermögen zu besteuern ist schwierig geworden, besonders in der EU. Zumindest die großen drei, vier Länder müssten akkordiert vorgehen, und selbst das reicht wahrscheinlich nicht. Kleine Staaten wie Malta leben ja davon, dass sie Kapital aus anderen Staaten anziehen.

STANDARD: Wenn die Globalisierung und der freie Kapitalverkehr verhindern, dass effektiv besteuert werden kann, was können offene Volkswirtschaften tun?

Milanović: Dieses Problem trifft nicht alle gleich. Die USA sind groß und nicht so stark vom Außenhandel abhängig wie kleine Länder, deren politischer Spielraum in der Tat extrem eingeengt ist. Ich sehe zwei Möglichkeiten zu reagieren: Entweder wir beginnen die Globalisierung zu hinterfragen. Ich denke, das ist nicht sehr vernünftig als politische Strategie. Die Alternative lautet, dass wir uns global besser koordinieren müssen: bei der Besteuerung von Kapital, bei Strategien gegen Steuervermeidung von Konzernen.

STANDARD: Seit Jahren versuchen sich Länder besser abzusprechen. Das Ergebnis ist mager.

Milanović: Das mag sein, aber man muss sich vor Augen halten, wie die Alternative aussieht. Die Globalisierung zurückzudrängen bedeutet einen Bruch mit der Strategie der vergangenen 50 Jahre. Das wird teuer. Der Brexit ist ein erster Versuch in diese Richtung, und wir können beobachten, wie kompliziert es ist. Eine Rückkehr zu nationalen Märkten könnte selbstzerstörerisch wirken in einer Ära, in der Unternehmen immer stärker von Größenvorteilen profitieren. Eine Rückabwicklung der Globalisierung bedeutet die Rückkehr zu nationalen Währungen, die Rückkehr zu Beschränkungen bei der Kapitalausfuhr. Das wäre politisch komplex umzusetzen und wirtschaftlich ineffizient. Viele kleinere Länder würden wirtschaftlich langsamer wachsen.

STANDARD: Wenn Sie sich als Gleichheitsforscher eine utopische Gesellschaft zimmern könnten, was würde Sie tun?

Milanović: Die erste Herausforderung ist die Migration. Es braucht eine politisch konsistente Strategie im Umgang mit Einwanderung. Industrieländer benötigen Migranten, keine Frage. Zugleich führt die Migration dazu, dass die Solidarität innerhalb einer Gesellschaft unterwandert wird. Arbeitnehmer, besonders jene, die schlecht verdienen, fragen sich, warum sie Steuern für Migranten zahlen sollen, die noch nie ins System einbezahlt haben. Es braucht eine sensible Politik, um damit umzugehen. Dann bräuchte es höhere Steuern auf Vermögen. Drittens muss der Kampf gegen Steuervermeidung von Konzernen forciert werden. Schließlich muss der Zugang zu Bildung verbessert werden. Das ist vor allem für die USA eine Aufgabe, wo die guten Privat-Unis so teuer geworden sind, dass sie sich selbst die Mittelschicht kaum leisten kann. (András Szigetvari, 15.2.2018)