Eigentlich müssen Vorstand und Aufsichtsrat einer Gesellschaft bei Konzernleitungsmaßnahmen oder Ausgliederungen die Hauptversammlung nicht befragen. In Ausnahmefällen ist das aber doch ratsam.

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Sie sind etwas diffus und geistern vor so mancher Transaktion als Schreckgespenster durch die Führungsetagen: die "ungeschriebenen" Hauptversammlungskompetenzen. Das Produkt richterlicher Rechtsschöpfung durch den deutschen Bundesgerichtshof zählt auch hierzulande zur gelebten Gesellschaftsrechtspraxis.

Von einem gesicherten Rechtsbestand kann dennoch nicht die Rede sein. Das Spannungsverhältnis zwischen möglicher persönlicher Haftung der Organe und Lähmung der Unternehmensleitung bringt trotz des Zeitdrucks bei M&A-Transaktionen auch österreichische Aktiengesellschaften immer wieder dazu, sich das Plazet der Hauptversammlung zu holen.

Das Aktiengesetz verteilt die Kompetenzen an sich klar auf die Gesellschaftsorgane. Im Wesentlichen ist es alleine der Vorstand, der die Geschäfte führt, und der Aufsichtsrat, der diesen überwacht bzw. bei wichtigen Maßnahmen zustimmt. Eines Beschlusses der HV als Eigentümergremium bedarf es lediglich in den im Gesetz oder in der Satzung ausdrücklich genannten Fällen.

Dazu zählen etwa Kapitalerhöhungen, die Liquidation der Gesellschaft oder die Änderung ihres Unternehmensgegenstands. Anders als in der GmbH besteht kein generelles Weisungsrecht der Aktionäre. Außer in den explizit angeordneten Fällen kann die HV nur dann entscheiden, wenn Vorstand oder Aufsichtsrat dies ausdrücklich verlangen.

Holzmüller-Doktrin

Vorstand und Aufsichtsrat könnten daher etwa einen wesentlichen Betriebszweig des Unternehmens ausgliedern, ohne dies zunächst mit den Aktionären abzustimmen. Dieser Fall war es, der 1982 den BGH veranlasste, die sogenannte Holzmüller-Doktrin zu etablieren, mit der er das aktienrechtliche Machtgefüge empfindlich aufweichte: Bei grundlegenden Entscheidungen, die tief in die Mitgliedsrechte der Aktionäre eingreifen, ist der Vorstand – auch ohne Anordnung in Gesetz oder Satzung – verpflichtet, die Zustimmung der HV einzuholen.

In der Holzmüller-Entscheidung wurde mit dem Seehafenbetrieb der J. F. Müller & Sohn AG der wertvollste Betriebsteil in eine Tochtergesellschaft ausgegliedert. Zwar kann eine solche Veräußerung normalerweise vom Vorstand (mit Genehmigung des Aufsichtsrats) beschlossen und durchgeführt werden.

Da die Maßnahme aber das "Kronjuwel" des Unternehmens betraf, wurde der Vorgang als so bedeutend eingestuft, dass sich dadurch die Gesamtcharakteristik der AG grundlegend veränderte. Deshalb hätte zuvor ein positiver HV-Beschluss eingeholt werden müssen, obwohl diese Vorgabe weder im Gesetz noch in den Statuten zu finden war.

Rechtsunsicherheit

Die österreichische Literatur schließt sich den Holzmüller-Grundsätzen fast einhellig an. Der OGH musste sich bis zuletzt nicht festlegen. Immerhin signalisierte er in zwei Entscheidungen eine gewisse Sympathie für ungeschriebene HV-Kompetenzen à la Holzmüller. Die Gretchenfrage ließ er jedoch unbeantwortet. Wie sein deutsches Pendant äußerte er sich nicht dazu, welche Fallgruppen (genau) eine HV erfordern.

Für die Praxis bedeutet dies ein erhebliches Maß an Rechtsunsicherheit. Einzig zu den Rechtsfolgen ließ sich der OGH eine Stellungnahme entlocken: Ein Handeln des Vorstands ohne vorherige Befragung der HV soll die bereits erfolgte Transaktion in der Regel unberührt lassen; diese bleibt also wirksam. Vorstandsmitglieder würden sich mit einem Alleingang jedoch der Gefahr von Schadenersatzansprüchen aussetzen. Zu Unterlassungs- und Beseitigungsansprüchen äußerte er sich nicht.

Für Entscheidungskriterien bleibt letztlich nicht mehr als ein erneuter Blick über die Grenze. In seinen "Gelatine"-Entscheidungen von 2004 stellte der BGH klar, dass eine Zuständigkeit der HV abseits gesetzlicher Regelungen die Ausnahme bleiben müsse und nur in engen Grenzen zur Anwendung gelange. In der Bedeutung müssen demnach "Holzmüller-Ausmaße" erreicht werden.

In Zahlen umgelegt, müssen ab einem Schwellenwert von circa 75 bis 80 Prozent des von der Transaktion betroffenen Gesellschaftsvermögens die Alarmglocken läuten. Eine reine Betrachtung der Assets würde jedoch zu kurz greifen. Auch andere Parameter müssen in die einzelfallabhängige Bewertung einfließen. Vor allem eine Mediatisierung der Herrschaftsrechte (wie bei einer Ausgliederung von Betriebsteilen in eine Tochter) sowie eine Wertverwässerung der Anteile können die vorherige Befassung der HV erfordern.

Von Holzmüller zu Gelatine

Dass der OGH, sollte er künftig "Holzmüller" sagen, auch "Gelatine" sagen wird, liegt nahe, hat er doch bereits 2014 darauf Bezug genommen. Übernehmen würde er dann wohl auch das Beschlussquorum: Drei Viertel des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals müssen zustimmen.

Mit den verbleibenden Unwägbarkeiten muss man in der Praxis vorerst leben. Das gilt auch für Schlagzeilen, wie sie jüngst in Deutschland zur Übernahme von Monsanto durch die Bayer AG und zum geplanten Zusammenschluss der Linde AG mit ihrem US-Konkurrenten Praxair, Inc. zu lesen waren. Die beabsichtigte Erschaffung des Weltmarktführers für Industriegase beschäftigt derzeit nicht nur die Kartellbehörden, sondern wegen der Holzmüller-Doktrin auch das Landesgericht München I. Hierzulande waren es einmal eine Anteilsveräußerung im Konzern sowie die Expansion des Geschäftsbetriebs ins Ausland, die es in Sachen ungeschriebene HV-Kompetenzen vor die Gerichte schafften.

Die Latte liegt indes mit Blick auf die Gelatine-Rechtsprechung durchaus hoch. Die HV soll nur in (extremen) Ausnahmefällen mit Geschäftsführungsagenden befasst werden. Starre Grenzen in Bezug auf einzelne Kennzahlen können nicht ausschlaggebend sein. Vielmehr ist eine Gesamtbetrachtung der konkreten Verhältnisse der Gesellschaft anzustellen und können nur wirklich grundlegende Maßnahmen mit dem Holzmüller-Label versehen werden.

Das entspricht auch der Grundregel des Aktiengesetzes, wonach der Vorstand selbst entscheiden können soll, ob er in seinem Verantwortungsbereich die HV – auf freiwilliger Basis – zurate ziehen möchte. (Thomas Zottl, Matthias Pendl, 15.2.2018)