Sahra Viktoria Frick und Merlin Sandmeyer in Tennessee Williams' "Die Glasmenagerie" am Akademietheater.

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Wien – Der amerikanische Süden hat schon entschieden dekorativere Tage gesehen als jetzt im Wiener Akademietheater. Ein schiefergrauer Dachboden verwöhnt Familie Wingfield mit einem Überangebot an hässlichem Lebensraum (Bühne: Patrick Bannwart). Der schäbige Küchentisch bildet das Zentrum der Geselligkeit.

In Tennessee Williams‘ "Die Glasmenagerie" zerfällt eine paternal verwaiste Sippe in ihre Bestandteile. Der Erzeuger hat sich vor Jahren, unter Hinterlassung einer höhnischen Postkarte, blendend gelaunt aus dem Staub gemacht. Mama Amanda (Regina Fritsch) ist mit Sohn (schluckstark) und Tochter (fußlahm) hilflos zurückgeblieben. Sie begegnet mit alten, komplett ungeeigneten Kulturtechniken dem damals, in den 1930er-Jahren, völlig neuen Phänomen des Massenelends. Dieses reicht tief in den Mittelstand hinein.

Amanda tut, als bestünde jeden Tag die Aussicht auf einen Jahresabschlussball, irgendwo in den Baumwollfedern des Südens. Sie achtet auf den Sitz ihres fabelhaft blondierten Haares. Sie nervt die Brut mit Anleitungen zum gesunden Essen. Sie macht mit siebensüßer Stimme Andeutungen über ein Lebensglück, das irgendwo, wenn man nur brav genug Schuhkartons schlichtet oder flink an der Schreibmaschine herumklappert, hinter der nächsten Ecke lauern soll.

Goldiger Optimismus

Mamas goldiger Optimismus ist selbstverständlich nichts anderes als eine Aufforderung zum Unglücklichsein. Wir befinden uns aber – Gott sei Dank! – in einer Tennessee-Williams-Inszenierung von David Bösch. Und dieser noch immer junge, fabelhaft einfühlsame Regisseur ist der beherzteste Anwalt seiner Figuren. Er richtet nicht, er rechnet. Welchen Haufen an Illusionen muss jemand auftürmen, um – mit ungefähr 60 Dollar monatlich in der Tasche – überhaupt noch über die Runden zu kommen? Was braucht es, um inmitten des eigenen Unglücks zu überleben?

Laura (Sarah Viktoria Frick), das spröde Mädchen mit dem orthopädischen Schuh, empfängt ihren Trost durch kleine Glasfiguren. Sie putzt diesen mutierten Heuschrecken mit wahrer Engelsgeduld die Flügel. Laura ist ein wahres Energiebündel. Das Leben betrachtet sie aus dem sicheren Abstand der Kontemplation. Dann genießt sie schluckweise Cola aus der Flasche und sieht Bruder Tom (Merlin Sandmeyer), einem hageren Funny-Bones-Komiker, beim Untergehen zu. Diagnose: Tod durch Wirklichkeitsverweigerung.

Ihr Handicap ist herzzerreißend. Immer dann, wenn Laura initiativ werden soll, reißt ihrem Magen sozusagen der Geduldsfaden. Dann kotzt sie noch unter den Augen eines rasch herbeigeschafften Verehrers (Martin Vischer als neoliberale Karikatur) auf den Teller.

Geheimnisvollen Kraftzentrum

Laura bildet das poetische Wunder eines geheimnisvollen Kraftzentrums: Sie löst sich aus allen sozialen Verstrickungen. Dann sieht sie am liebsten den Wolkenbrüchen zu, die auf das schräge Dachfenster prasseln. Oder sie begräbt ihre Hoffnung auf Jim (Vischer), den Jahrgangsbesten an ihrem College. Dessen Musicalexpertise besteht im Nachsingen von Kaugummiwerbung. Das merkwürdig eigensinnige Mädchen speist er mit rhetorischen Brosamen ab. Und weil Bösch bei aller Behutsamkeit ein genauer Beobachter ist, erhebt der Trumpismus – als neuartige Form, den Mittelstand aufzuwerten – in dieser Inszenierung sein blondiertes Schreckenshaupt.

Es wird alles gut, weil natürlich alles katastrophal schiefläuft. Laura verliert nicht nur ihr liebstes Glastier, ein Einhorn, sie opfert auch ein zweites, indem sie es in der Hand zerdrückt (Diagnose: Kapitulation vor dem Leben). Ein kalter Regenguss wäscht ihr die Scham vom Leib.

Mama huldigt ein letztes Mal ihrer Südstaatenallüre, mit überschnappendem Gelächter (Diagnose: ein starker Abgang). Tom aber tut es dem Vater gleich und zieht in die Ferne. Wenn er Glück hat, wird er unser aller Dramatiker werden, der Chronist des gesellschaftlichen Niedergangs. Noch wahrscheinlicher aber wird er der Trunksucht verfallen, in abgedunkelten Kinosälen anderen beim Verwirklichen des Amerikanischen Traums zusehen und resignieren.

Ihrer aller Diagnose aber lautet: So lange es Regiekünstler wie Bösch gibt, kann noch nicht alles verloren sein. Jubel. (Ronald Pohl, 16.2.2018)