Schweizer Wählerinnen und Wähler stehen vor der Stimmabgabe bei einem umstrittenen Referendum Schlange. Davor haben sich alle umfassend und objektiv über die Fragestellung informieren können.

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Zentrale Weichenstellungen einer demokratischen Industriegesellschaft können in formell und kulturell unterschiedlicher Art und Weise vonstattengehen. Formell treffen die politischen Entscheidungsträger kraft ihres verfassungsmäßig festgeschriebenen Mandats schlicht die nötigen Beschlüsse. Sei es, dass die politischen Mandatare (der Regelfall in einer repräsentativen Demokratie) im parlamentarischen Prozess zu einer Lösung gefunden haben oder diese Lösung in einer Abstimmung vom Volk selbst getroffen wurde.

Eine Frage der demokratischen Kultur hingegen ist es, wie diese Entscheidungen begleitet und aufbereitet werden: Die Palette reicht von klandestinen Konsultationen der wichtigsten beteiligten Kreise bis hin zu aufwendigen partizipativen Formaten, Plattformen (inklusive begleitender Dokumentationen), mithilfe derer die Zivilgesellschaft eingebunden wird. Der letztere Weg ist der langwierigere und steilere. Ihn dennoch zu wählen lohnt, weil an seinem Ende die politische Weichenstellung auch von einer neu geschriebenen Passage des Gesellschaftsvertrages getragen wird – damit also Teil der "DNA" einer Gesellschaft, und damit einer Nation wird.

Die von der modernen politischen Philosophie als "Gedankenexperiment" umschriebene Figur des Gesellschaftsvertrages gestattet, den Reife- und Lernprozess einer Gesellschaft abzubilden. Dabei ist kein tatsächliches, ausformuliertes Vertragswerk gemeint, sondern vielmehr ein Prozess, der die verschiedenen Zugänge zu einer Thematik darstellt und diese ebenso dokumentiert wie die Reaktionen darauf. Ein Prozess, der den Entscheidungsprozess begleitet, und die Zwischen- wie die Endergebnisse "sichert".

Wenn in der medialen Berichterstattung immer wieder behauptet wird, dieses oder jenes Thema würde das Land "spalten", so verstellt dieser Zugang den Blick auf den trotz strittiger Fragen stets vorhandenen Grundkonsens an Fakten und Wertvorstellungen. Allzu oft bleibt dieser Kitt, dieses Fundament als Basis der Meinungsvielfalt verborgen, da die Begleitung politischer Entscheidungen durch die Zivilgesellschaft unterbleibt. Dies gilt in gleichem Maße für Entscheidungen, die direkt vom Volk getroffen werden, wie für jene, die dessen parlamentarische Repräsentanten treffen.

So hat die Schweiz in jüngster Zeit zu zwei Themen Volksabstimmungen abgehalten, die für ihre zukünftige Entwicklung besonders wichtig sind. Während die Eidgenossen sich im September 2016 mehrheitlich gegen die "Volksinitiative für eine nachhaltige und ressourceneffiziente Wirtschaft" aussprachen, fand die Vorlage zum "Energiegesetz" als schweizerische Ausformung der Energiewende mit 58,2 Prozent eine klare Mehrheit.

Präzise Analyse

Die Fragestellung der Abstimmung sowie der dahinterliegende Diskussionsprozess werden ebenso wie eine Analyse des Ergebnisses dokumentiert und aufbereitet. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann sich in beliebiger Detailtiefe mit Thema und Sichtweisen auseinandersetzen. Dem dient nicht nur (seit mehr als vier Jahrzehnten) ein für jede Abstimmung erstelltes Kompendium – das "Abstimmungsbücheli", mit einer Auflage von 5,4 Millionen die auflagenstärkste Publikation der Schweiz -, sondern auch Videos, Statistiken, Meinungen, alles gedruckt anzufordern oder über die Website der Regierung einzusehen. Das "Bücheli" zum Energiegesetz ist 60 Seiten stark und stellt nicht nur die zur Abstimmung stehende Thematik vor, sondern auch wie es zur Abstimmung kam und welche Argumente Befürworter wie Gegner ins Treffen führen.

Das Ergebnis der Abstimmung wird einer ausführlichen Bewertung unterzogen. In "Voto"-Studien wird auf Basis einer repräsentativen Umfrage analysiert, welche Argumente in welchen Bevölkerungsgruppen ausschlaggebend waren. Diese Studie stellt auch dar, ob die Fragen klar formuliert waren und welche Informationsquellen herangezogen wurden. Das "Bücheli" ist mit Werten um die 90 Prozent hier nach den Printmedien stets in einer Spitzenposition.

Die "Voto"-Studie zur Energiegesetzabstimmung macht deutlich, dass fast vier Fünftel der Schweizer von der Machbarkeit des Atomausstiegs überzeugt sind. Auf der anderen Seite war der Vorschlag zur Bundesverfassung "Bis ins Jahr 2050 wird der 'ökologische Fußabdruck' der Schweiz so reduziert, dass er auf die Weltbevölkerung hochgerechnet eine Erde nicht überschreitet", für das Wahlvolk zwar positiv besetzt, aber in seinen Konsequenzen zu unklar, und daher erschien er auch inhaltlich als nicht umsetzbar.

In der Schweiz wird so mit der sorgfältigen und ausgereiften Dokumentation rund um jede Volksabstimmung ein Kapitel des Schweizer Gesellschaftsvertrages geschrieben. Allen Bürgern ist erschließbar, wie es zur Entscheidung kam und welche Argumente ausschlaggebend waren. Grundsatzentscheidungen derartig zu begleiten, schafft in der Gesellschaft auch Identifikation mit der Entscheidung – es war ja "unsere".

Für einen breiten Konsens

Dieses Schaffen von Bewusstsein hat jedoch keineswegs einen Volksentscheid als Voraussetzung. Jeder politische Entscheidungsprozess kann so begleitet und aufbereitet werden, dass der Erfahrungsgewinn für die Gesellschaft erhalten bleibt. Grundsatzfragen wie jene zur zukünftigen Ausgestaltung der Energieversorgung (Stichwort "Dekarbonisierung") sollten von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen werden, da alle massiv betroffen sein werden. Gleiches gilt für ein grundsätzliches Bekenntnis zum eigenen Land als "Industriestandort" – angereichert um die Zielvorstellungen einer ressourceneffizienten "Kreislaufwirtschaft".

Sollen große Veränderungen von der Gesellschaft getragen und so Teil ihres "Vertrages" werden, dann muss ihr die Teilhabe und Identifikation mit diesem Wandel ermöglicht werden. Es muss nicht das "Bücheli" unserer Nachbarn sein. Die Wege zu dieser Teilhabe sind ebenso vielfältig wie die Wege zu den Entscheidungen selbst. (Thomas Jakl, 16.2.2018)