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Aber das Phänomen der Gaffer hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen.

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Was sich am Donnerstag auf einer Baustelle auf der Hütteldorfer Straße in Wien ereignet hat, macht betroffen und wütend, wenn man darüber liest. Ein Arbeiter wurde von einem Betonkübel, der von einem Kran baumelte, erfasst, gegen eine Mauer gedrückt und getötet. Während Einsatzkräfte den Unglücksort absicherten, den geschockten Kranführer und andere Kollegen des 43-jährigen Verstorbenen zu bergen und zu versorgen versuchten, versammelten sich 80 bis 100 "Schaulustige", die den Einsatzkräften die Arbeit erschwerten. Die Polizei musste die Unfallstelle noch großräumiger absichern. Meldungen wie diese scheinen sich in letzter Zeit zu häufen.

Massiver Fall

"Richtig bei der Arbeit behindert sind wir diesmal nicht worden", erzählt eine Sprecherin der Wiener Berufsrettung am nächsten Tag dem STANDARD. Aber das Phänomen der Gaffer sei "in den letzten Jahren sicher mehr geworden". Sobald etwas im öffentlichen Raum vorfalle, versammeln sich sofort Menschen mit Handykameras. "Der Fall auf dem Reumannplatz war sicher der massivste", sagt die Rettungssprecherin. Vor etwa einer Woche war dort ein 71-Jähriger zusammengebrochen, zu dem die Rettungskräfte nicht vordringen konnten, weil sich binnen Minuten rund 300 Menschen um ihn drängten. Teils gingen sie sehr nahe an ihn heran, um zu fotografieren oder zu filmen. Der Mann verstarb im Spital.

Hochburg der Gaffer

Aber woher kommt diese Lust am Gaffen? Ist sie wirklich neu, oder erlebt sie durch Technologien wie Smartphones nur eine Konjunktur. Die Hochburg der Gaffer könnte man in Österreich – zumindest etymologisch – in der Obersteiermark verorten. Ganz konkret in Kapfenberg. Die Burg Chaffenberg, urkundlich erstmals 1173 erwähnt, verdankt ihren Namen nämlich derselben Wurzel wie das Gaffen. Castrum chaffenberch, wie sie auch hieß, bedeutete Burg am Ausschauberg – quasi die Burg, von der aus man gut gaffen konnte.

Das Phänomen der Schaulust ist freilich viel älter als die Industriestadt im Mürztal. Lust am Gruseln und an der Sensation dürften die meisten Menschen empfinden. Sonst hätten öffentliche Hinrichtungen, das An-den-Pranger-Stellen von Menschen oder die Verbrennungen sogenannter Hexen nicht den Zulauf gehabt, der überliefert ist.

Man könnte einwenden, dass solcherlei Veranstaltungen mehr der Abschreckung als dem Gaudium dienen sollten. Das bezweifelt Gerichtspsychiater Reinhard Haller: "Hinrichtungen waren nicht nur Abschreckung, sondern das waren auch richtige Volksfeste." Von einer Wirtin aus Vorarlberg sei die Aussage überliefert, dass sie bei einer Hinrichtung mehr Geschäft gemachte habe als bei jedem anderen Anlass. Von besagter Wirtin und anderen gaffenden Zeitgenossen wurden freilich nur Texte, im besten Fall Zeichnungen, überliefert. Heute reicht ein Blick ins Internet, in soziale Netzwerke oder auf Plattformen wie Youtube, um ganze Rettungseinsätze oder den Todeskampf von Menschen beobachten zu können. Hat die Sucht, sich ständig auf Facebook, Instagram oder Twitter in neuen Bildern zu präsentieren, die Hilfsbereitschaft verdrängt? Ist man schon abnormal, wenn man Hilfe holt und sich nicht filmend an blutenden Wunden ergötzt?

Bystander-Effekt

Heinz Wittenbrink, Lehrender für Onlinejournalismus und soziale Medien an der FH Joanneum in Graz, sieht keinen direkten Zusammenhang zwischen Onlinekommunikation und asozialem Verhalten. Er verweist auf den sogenannten Zuschauereffekt (auch Bystander-Effekt), der folgendes Phänomen beschreibt: Die Wahrscheinlichkeit, dass Zuseher helfend eingreifen, wird geringer, je mehr Leute sich um einen Vorfall versammeln. Zu beobachten sei dies nicht erst in den letzten Jahren. Das Genovese-Syndrom etwa, das ebenfalls dieses Phänomen beschreibt, ist nach der US-Amerikanerin Kitty Genovese benannt, die 1964 in New York mit zahlreichen Messerstichen getötet wurde. Der Angriff dauerte eine halbe Stunde. 38 Zuseher halfen ihr nicht. "Dass Onlinemedien oder Handys darauf Einfluss nehmen, wie man sich in einer solchen Situation benimmt, stimmt nicht", sagt Wittenbrink. "Studien zeigen etwa, dass es in den USA schlimmer, in Kanada aber besser geworden ist. Das hängt mit anderen Faktoren, etwa Hass auf bestimmte Gruppen, zusammen", sagt Wittenbrink dem STANDARD.

Sadistisch und narzisstisch

Psychiater Haller schätzt, dass sich die Gesellschaft in etwa in zwei Hälften teilt. Also in Gaffer und in jene, die "sich sozial verhalten". Bei den Gaffern spielten verschiedene Motive eine Rolle: Neben Neugierde und der Lust am Schauen auch "der selbstheilende, selbstrettende Aspekt: Man ist der Gesunde, hebt sich so ein Stück weit empor über den anderen." Aber, und das mag wenig beruhigend klingen, auch "stark sadistische Anteile" spielen bei den Gaffern mit. Hier überrascht ein Umstand, den man laut Haller fast positiv bewerten kann: "Wer stark sadistische Züge hat, die er sonst nicht auslebt, kann sie so ausleben. Das ist auf jeden Fall die bessere Lösung, als wenn er selbst jemanden zu Tode quält."

In Graz testet das Rote Kreuz ab sofort mobile, faltbare Sichtschutzwände. Die Sprecherin der Wiener Berufsrettung ist da skeptisch: "Das ist eigentlich nur bei Großeinsätzen sinnvoll. Wenn nur zwei oder drei Leute mitfahren, ist sonst einer mit dem Aufstellen beschäftigt, anstatt helfen zu können". Man setzte auf Kampagnen zur Bewusstseinsbildung. So hat man ein Video, das sich gegen Gaffer richtet, kürzlich wieder auf die Facebook-Seite der Organisation gestellt. (Colette M. Schmidt, 18.2.2018)