Wilhelm Genazino: die bürgerliche Qual der Hosenbefleckung.


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Wien – 60 Jahre alt, immer erregt südlich der Gürtellinie, aber harmlos ist der Antiheld in Wilhelm Genazinos schmalem neuem Roman Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze. Den Titel darf man nicht als späten Freiheitsdrang missinterpretieren. Wir haben es nicht mit einem jung gebliebenen Kerl auf dem Weg in einen zweiten bohemiesken Frühling zu tun. Sondern es steckt darin ein alternder Knacker aussichtslos fest in seinem Leben.

Die stumpfe Ehe der eigenen Eltern und deren ebenso stumpfe Geister hat er im Erfahrungsgepäck. So treibt ihn die Vergangenheit auf einem Drittel des Buches um. Ein weiteres Drittel fühlt er sich von Gegenwart und Zukunft enttäuscht. Frauen nehmen das letzte Drittel Aufmerksamkeit ein. Hoffnung und Heilung suchend, durchstreift der Namenlose Frankfurts Straßen, Kaufhäuser, Pastalokale und die 170 Seiten.

In einer ungeheuerlichen Lust am Selbstgespräch darf er dabei über sich selbst erzählen. Dieser Mann in seiner einzigen, fleckigen Hose ist ohne Halt, ohne Zukunft, ohne Arbeit. Nicht nur er: Fast so viele Männer wie jene, die Mülltonnen der Stadt berufsmäßig entleeren, durchsuchen sie mittlerweile auch nach Essen. Auch ideell tragen die Menschen einen "ewigen Mangel" in den Gesichtern. Eile ist eine Tugend. So schlecht, so gut (gemeint).

So permanent wie beiläufig, flapsig sprudelt dieser trübe Quell, dass man öfter meint, hinter der nächsten Ecke lauere bloß noch Geschwätz. So schlimm wird es nicht. Es fügen sich Gegenwart und Vergangenes und überhaupt eines ins andere – mit manch glänzender Bemerkung. Doch es wurlt in der Figur so unverblümt und misogyn, dass sie einem mächtig unsympathisch wird. Mag man dem Autor das – wenn hoffentlich nicht als Ehrlichkeit – als Mut anrechnen?

Eine seiner Freundinnen muss sich wegen eines Tumors etwa eine Brust abnehmen lassen. Bekümmert, ob es dann noch zu Sex kommen werde, begeistert ihn das Angebot, sie von hinten zu nehmen, um die Narben nicht sehen zu müssen, nicht. Das habe "etwas Viehisches an sich ...", ist er abgeturnt. Generell lernt man Frauen nie ohne Einschätzung ihrer Brüste kennen, seien sie "breit, fast fladenartig" geworden oder "klein, aber entzückend, wie im Kinderzimmer liegen gebliebenes Spielzeug". Eine andere "wusste noch nicht, dass die Attraktivität ihres Busens durch Altern sowieso nachlassen würde", auch ohne den Nachwuchs gesäugt zu haben.

Zeit für Verwunderung

Man darf sich noch weiter wundern. Er nimmt gern (Handjobs, Blowjobs, mütterliche Fürsorge) und gibt dafür wenig. Warum die Frauen je damit schon zufrieden sind? Nun: Zum einen kennen sie seine Gedanken nicht, er geht eher streunen als sich aussprechen. Zum anderen sind sie eher tumb angelegt. Sie müssten als literarisch Missbrauchte "MeToo!" schreien.

"Deine Sätze sind so undurchschaubar wie du, dachte ich, und damit war der Fall erledigt", zieht der Tropf sich einmal aus der Verantwortung für sie. Tatsächlich sind sie weniger undurchschaubar als lähmend. So oder so, das ist zu viel der Nachsicht mit sich selbst. Seitens der Figur wie des Autors. Es hätte wohl etwas werden können, wären beide nicht mit zu vielen popeligen, tropfenden Fantasien irgendwie schon doch zufrieden gewesen. (Michael Wurmitzer, 19.2.2018)