"Marine Le Pen": Vater Jean-Marie nennt seine Tochter stets mit vollem Namen – ganz wie eine Fremde. Im Wahlkampf sei sie "unfeminin" aufgetreten und habe taktische Fehler begangen.

Foto: APA/AFP/Saget

Das schmiedeeiserne, fünf Meter hohe Tor öffnet sich lautlos und wie von selbst: Willkommen im Park von Montretout, einer der teuersten und bestgesicherten Nobelresidenzen außerhalb von Paris. Ganz hinten, im Schutz alter Bäume, prangt eine imposante Villa. Nochmals ein Knopfdruck, und nach langem Warten öffnet eine freundliche Dame ein weiteres Gittertor. "Der Präsident kommt gleich", sagt sie und geleitet ins Arbeitszimmer von Jean-Marie Le Pen, das einen spektakulären Blick über Paris bietet.

Der Raum ist voller Jeanne-d'Arc-Statuen, einem rumänischen Kalender mit Putin-Cover sowie Familienfotos: Einmal Le Pen mit Gattin Jany, dann Le Pen mit seinen drei blonden Töchtern Marie-Caroline, Yann und Marine. Daneben eine CD mit Wagner, Vinylscheiben mit "traditionellen Armeeliedern". Stapelweise Bücher wie "Der permanente Staatstreich" von François Mitterrand oder "Toter Krieg" (ohne Autorenangabe). Dazu Medaillen der Partei und einzelner Armeekorps.

Vom geliebten Vaterland, genauer von der französischen Republik, die mit Orden sonst nicht geizt, findet sich jedoch keine einzige Auszeichnung. Dabei ist Le Pen bis heute eine der bestimmenden Figuren der französischen Nachkriegspolitik. Aber er ist eben auch der Hauptfeind der Republik. 1928 in der Bretagne geboren, Offizier im Algerien-Krieg mit Folterverdacht, wurde er erstmals 1956 Abgeordneter. Durch die Erbschaft eines Anhängers reich geworden, gründete er 1972 den Front National. Fünfmal nahm er in Frankreich an Präsidentschaftswahlen teil; 2002 unterlag er erst in der Stichwahl gegen Jacques Chirac. 2015 wurde er von der eigenen Tochter Marine Le Pen aus der Partei geworfen. Jetzt veröffentlicht er den ersten Band seiner Memoiren. Der zweite Band soll 2019 erscheinen.

Endlich erscheint "le Président", der eigentlich nichts mehr präsidiert. Gealtert, aber gut gelaunt, mit lebhaftem Intellekt, beantwortet der 89-Jährige einen halben Nachmittag lang die Fragen, ohne eine Antwort schuldig zu bleiben. Von dem – notgedrungen gekürzten – Gespräch bleibt der Eindruck einer Obsession haften: Unabhängig von den Fragen mündet fast jede Antwort in einen Exkurs über den demografisch bedingten Untergang Europas.

STANDARD: Sie veröffentlichen Ihre Memoiren kurz vor dem Front-National-Kongress Ihrer Tochter Marine Le Pen. Wollen Sie ihr ein letztes Mal die Schau stehlen?

Le Pen: Das ist purer Zufall. Marine Le Pen ist zweitrangig für mich. Nein, ich will auf meine 44 Jahre an der Spitze des Front National zurückblicken, auf über sechzig Jahre in der französischen Politik.

STANDARD: Ihre Tochter hat Sie aus der Partei geworfen, doch per Gerichtsurteil bleiben Sie Ehrenpräsident. Werden Sie am 10. März den Parteitag in Lille aufsuchen?

Le Pen: Mal sehen. Ich werde auf jeden Fall nach Lille fahren. Einige wollen mich mit Gewalt am Betreten des Kongressgebäudes hindern, obwohl das gegen den Gerichtsbeschluss verstoßen würde. Aber Marine Le Pen hatte noch nie viel übrig für Justizentscheide.

STANDARD: Nehmen Sie ein paar Leibwächter mit?

Le Pen: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mitglieder des Front National oder Marines Schergen mir körperlich Schaden zufügen wollten. Das wäre politisch tödlich für sie.

STANDARD: Wollen Sie mit Ihren Memoiren nicht klarmachen, wer der wahre Chef der französischen Rechtsextremen ist?

Le Pen: Viele behaupten, ich wolle Marine Le Pen den Platz streitig machen. Dabei mache ich gar nichts. Ich hätte etwas mehr Nachsicht vonseiten der Partei verdient!

STANDARD: Weil Sie sie schon 1972 gegründet haben?

Le Pen: Die "Nationale Front für Französisch-Algerien" hatte ich sogar schon 1960 ins Leben gerufen. 1972 gründete ich den eigentlichen Front National (FN) zusammen mit Georges Bidault und dem Ordre Nouveau (Neue Ordnung).

STANDARD: Daher rührt das Parteilogo mit der Flamme, Symbol der Neofaschisten von Ordre Nouveau.

Le Pen: Es stimmt, Ordre Nouveau hatte Beziehungen zu den italienischen Neofaschisten des MSI. Aber die verließen den FN bald. Seither war es stets mein Ziel, alle französischen "Nationalen", unabhängig von ihrem Ursprung oder ihrer Vergangenheit, zu vereinigen. Wenn es Patrioten waren, die Frankreich liebten und die tödliche Gefahr der Überfremdung erkannten, waren sie willkommen, ohne dass ich irgendwelche moralischen oder politischen Einwände anbrachte.

STANDARD: Sie provozieren jedenfalls weiterhin mit antisemitischen oder anderen Sprüchen.

Le Pen: Nennen Sie mir einen antisemitischen Spruch, für den ich verurteilt worden wäre!

STANDARD: Etwa den: Die Gaskammern des Zweiten Weltkriegs seien ein Detail der Geschichte.

Le Pen: Das soll antisemitisch sein?

STANDARD: Die Justiz fand, ja.

Le Pen: Als man mich fragte, was ich über die Gaskammern dächte, antwortete ich, ich hätte selber keine gesehen, weshalb ich nichts bezeugen könne; aber ich sage nicht, sie hätten nicht existiert. Ich sagte, in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs sei das ein Detail. Was soll daran antisemitisch sein? Muss ich vor dem Unglück der Shoah niederknien und mein Haupt auf den Boden legen? Ich bin ein freier Mann, und ich sage Ihnen: Der wichtigste Tote des Zweiten Weltkriegs war mein Vater, der durch eine Mine umgekommen ist.

STANDARD: Marine Le Pen hat, indem sie solche Provokationen vermeidet, elf Millionen Stimmen erhalten, doppelt so viele wie Sie.

Le Pen: Sie profitiert von meiner Vorarbeit mit dem Front National. Seit einem halben Jahrhundert warne ich vor den unkontrollierten Migrationsbewegungen. Ich bin die Kassandra, die niemand mag. Wenn Sie in einzelnen Vorstädten von Paris den Bus nehmen und der einzige Europäer sind, denken Sie, egal ob Sie Kommunist oder sonst etwas sind: Le Pen hatte recht. In den letzten 50 Jahren ist die Weltbevölkerung von drei auf acht Milliarden hochgeschnellt, in Algerien zum Beispiel von acht auf mehr als 40 Millionen. Europa hingegen verliert Einwohner. Wir werden schwächer.

STANDARD: Was hat Marine Le Pen in der Präsidentschaftskampagne 2017 falsch gemacht?

Le Pen: Es war falsch, gegen den Euro und die EU Kampagne zu machen. In den Umfragen war das nur das fünftwichtigste Thema der Franzosen. Ich hätte die massive Immigration an die Spitze gestellt. Sie ist der Ursprung von Schul- und Wohnbaukrise, Unsicherheit und Arbeitslosigkeit. Dazu kam ein taktischer Fehler: Marine Le Pen hielt zu viele kleine Wahlmeetings ab. Am Ende war sie völlig erschöpft und attackierte Macron auf unfeminine Art. Frankreich ist ein machohaftes Land. Wenn eine Frau Präsidentin werden will, muss sie würdig, königlich auftreten. Aber wenn vier Tage vor der Wahl ein Drama mit tausend Toten passiert wäre, hätte Marine Le Pen gewinnen können.

STANDARD: Marine Le Pen will den Namen "Front National" ändern. Was halten Sie davon?

Le Pen: Das ist völlig bekloppt. Der Name und die Marke einer Partei sind ein Mittel der Identifizierung. Das muss zwanzig Jahre lang aufgebaut werden. "Front National" scheint mir weiterhin eine gute Bezeichnung zu sein, sie ist klar der Rechten zuzuordnen, laut den Gegnern sogar der extremen Rechten.

STANDARD: Würden Sie sich politisch auch dort ansiedeln?

Le Pen: Ach wo. Das Bild, das mir am ehesten entspricht, ist das des Eisbrechers. Ich musste zeit meines Lebens gegen harte Widerstände ankämpfen.

STANDARD: Aber Sie haben es nie geschafft. Sie wussten von Beginn an, dass Sie mit Ihrer Hau-drauf-Politik nie Staatspräsident werden würden.

Le Pen: Ganz und gar nicht. Ich hatte sogar ein Schattenkabinett zusammengestellt. Wir wären regierungsfähig gewesen.

STANDARD: Ihre Tochter hat klar gegen Macron verloren. Wird sie sich überhaupt wieder aufrappeln können?

Le Pen: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es hängt von der Situation ab, von ihrer Intelligenz, ihrem Willen. Ich glaube nicht, dass sie die große nationale Einigung schafft, die mir vorschwebt. Doch andere können ihr an der Parteispitze folgen.

STANDARD: Stehen Sie in Verbindung mit Regierungsmitgliedern der österreichischen FPÖ?

Le Pen: Nein, das nicht, aber ich verfolge die Regierung mit Sympathie. Sie scheint dem Willen des österreichischen Volkes zu entsprechen. Österreich befindet sich am Rande Europas und reagiert empfindlich auf die demografischen Veränderungen. (Stefan Brändle aus Paris, 22.2.2018)