Die humanitären Bedürfnisse in Syrien sind extrem, berichtet Sophie Sutrich vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK).

Foto: IKRK

Mit Hilfskonvois versuchen humanitäre Organisationen, das Leid der Zivilbevölkerung zu lindern.

Foto: IKRK

Bild nicht mehr verfügbar.

Obwohl große Teile der syrischen Stadt Homs zerstört sind, leben hier noch Menschen. Viele sterben an banalen Krankheiten.

Foto: AP/Hassan Ammar

STANDARD: Welche sind die dringendsten Bedürfnisse der syrischen Bevölkerung?

Sutrich: Es kommt darauf an, wo und wer man ist. In Homs ist es seit fast einem Jahr etwas ruhiger, in anderen Gebieten werden Leute auch heute noch vertrieben. Die Leute wollen zur Normalität zurückkehren. Gleichzeitig sind die humanitären Bedürfnisse extrem. Über die Hälfte aller Krankenhäuser sind außer Betrieb oder funktionieren nur ganz minimal. In Homs funktioniert das öffentliche Gesundheitswesen fast gar nicht mehr. Es gibt ein paar private Anbieter, bei denen es aber auch an allem mangelt. Diese sind außerdem für die Mittellosen der Gesellschaft nicht zugänglich. Man sieht täglich, dass Menschen an Krankheiten sterben, die eigentlich verhinderbar wären. Das verändert sich auch nicht von einem Tag auf den anderen, nur weil jetzt keine aktiven Kampfhandlungen mehr stattfinden.

STANDARD: Das heißt, der Großteil stirbt nicht bei Kriegshandlungen, sondern an chronischen Krankheiten?

Sutrich: Genau. Jene, die auf Gesundheitsversorgung angewiesen sind, wie zum Beispiel Dialyse-Patienten, haben keine Alternativen. Wir betreiben in Homs sowohl auf der regierungskontrollierten als auch auf der Oppositionsseite eine Dialyse-Station.

STANDARD: Wie weit ist der Weg dorthin, um so etwas auf beiden Seiten zu realisieren?

Sutrich: Die Idee des Roten Kreuzes ist im Krieg entstanden, wir sind sozusagen die Kriegsspezialisten. Um überhaupt arbeiten zu können, müssen wir mit allen Kriegsparteien in Kontakt stehen. Auch völkerrechtlich nehmen wir die Rolle ein, Dialog mit und manchmal auch zwischen den Parteien herzustellen. Wir kommunizieren mit allen offen und treffen sie auch persönlich.

STANDARD: Zieht man Grenzen bei den Gesprächspartnern?

Sutrich: Es ist für uns extrem wichtig, mit allen zu reden. Das ist unsere Aufgabe. Mit allen Kriegsparteien Kontakt aufzunehmen ist für uns auch kein politisches Statement.

STANDARD: Sprechen Sie auch mit dem IS?

Sutrich: Wir sind neutral und beziehen keine Stellung zu Konflikten oder kontroversiellen Themen. Nur so haben wir Zugang und können auch unsere Sicherheit garantieren. Aber es kann schon sein, dass manche nicht mit uns sprechen wollen.

STANDARD: Sie sind täglich Zeugen davon, dass Recht gebrochen wird. Gibt es Zeitpunkte, wo man auch öffentlich etwas anprangert?

Sutrich: Die Neutralität ist das Wichtigste, um von Grund auf unsere Arbeit überhaupt machen zu können. Natürlich ist es immer eine Abwägung, was man wann zu wem sagt. Im Endeffekt ist die Berechnung aber einfach: Wie können wir einen Unterschied machen für die Leute, die betroffen sind? Wir haben Zugang zu den Menschen, die einen Unterschied machen können. Wenn wir beispielsweise Gefängnisbesuche machen, haben wir einen Dialog mit den Behörden und mit den Gefangenen. Wenn wir direkt an die Medien gehen würden und sagen, das und das ist passiert, dann wäre mit dem Schluss und wir kämen nicht mehr rein.

STANDARD: Auf welche Hilfe ist die Zivilbevölkerung angewiesen?

Sutrich: Es gibt viele intern Vertriebene, die nicht in den eigenen vier Wänden wohnen. Diese Menschen haben gar nichts. Da geht es um Notfallhilfe: Essen, Decken, Haushaltsgeräte. Wir können auch kleinere Reparaturen machen, aber es bewegt sich natürlich auf einem Minimum. Gleichzeitig haben wir auch Projekte für Rückkehrer, damit die sich ihre Lebensgrundlage wieder aufbauen können.

STANDARD: Ist Hilfe zur Selbsthilfe ein Credo, das man verfolgt?

Sutrich: Die Menschen wollen nicht ewig abhängig sein von dem Essenspaket, das immer wieder mal abgeliefert wird. Wir unterstützen beispielsweise auch Kleinbauern mit Samen und Dünger. Wir bauen Fenster und Türen bei zerstörten Häusern wieder ein, damit die Leute zurückkommen können und zumindest vor dem Wetter geschützt sind. Die Infrastruktur hat in den vergangenen Jahren sehr gelitten, was ein extremer Risikofaktor für die Bevölkerung ist. In Syrien gibt es sehr viele Ballungszentren. Lässt man da zu, dass die Infrastruktur verfällt, dann sind auf einmal unglaublich viele Leute in Gefahr, kein Trinkwasser mehr zu haben.

STANDARD: Wie geht es den Kindern?

Sutrich: Es sind bereits so viele Jahre, man kann gar nicht wirklich wissen, was mit dieser Generation alles angerichtet wurde. Jene, die innerhalb vom Land vertrieben wurden, haben einfach keine oder eine ganz schlechte Bildung. Die psychischen Auswirkungen auf diese Generation kann man noch nicht abschätzen. Jeder in Syrien bräuchte theoretisch eine psychologische Unterstützung.

STANDARD: Auch in Hinblick darauf, wenn das Land wieder aufgebaut werden soll?

Sutrich: Ja. Eine Generation, für die Gewalt normal geworden ist, ist beängstigend.

STANDARD: Wird es in absehbarer Zeit Frieden geben?

Sutrich: Ich bin eigentlich nicht sehr optimistisch. Dafür ist es noch zu früh. Meiner Einschätzung nach wird es nicht so schnell vorbei sein. Es kann nur eine politische Lösung geben – und die existiert noch nicht.

STANDARD: Seit 1. Juni 2016 erhalten anerkannte Flüchtlinge in Österreich ein befristetes Aufenthaltsrecht, das je nach Gefährdungslage wieder entzogen werden kann. Kann man Syrer wieder zurückschicken?

Sutrich: Wenn die richtigen Umstände gegeben sind, das heißt, wenn Menschen in Sicherheit, in Würde und im Bewusstsein darüber, was sie bei einer Rückkehr erwartet, zurückkehren können, ist das natürlich sehr positiv. Generell ist das in Syrien allerdings noch nicht der Fall. Der Konflikt geht nach wie vor weiter und eskaliert in vielen Bereichen des Landes. Außerdem ist die Infrastruktur in vielen Teilen zerstört, das Gesundheitssystem funktioniert nicht, und es besteht ein hohes Risiko, dass Menschen von Minen oder anderen Sprengkörpern verletzt oder getötet werden. Im letzten Jahr sind tatsächlich geschätzte 560.000 Menschen zurückgekehrt. Es wurden allerdings 1,3 Millionen von neuem vertrieben.

STANDARD: Also werden auch in den nächsten Monaten Menschen gezwungen sein zu flüchten?

Sutrich: Die Angriffe haben wieder zugenommen. Die Menschen fliehen in dem Moment, während wir sprechen. (Vanessa Gaigg, 22.2.2018)