Martin Schwab als König Lear und Elmar Roloff als Gloster am Schauspiel Stuttgart.

Foto: Schauspiel Stuttgart / Thomas Aurin

Heiterer, mit so viel unbeschwerter Kinderlaune, ist noch kein Lear in sein Verderben gelaufen. Mit funkelnden Äuglein malt der greise König einen magischen Kreis auf die Erde. Martin Schwab, der große Burgtheatermime, ist für diese Besteigung eines Dramen-Achttausenders in die schwäbische Heimat zurückgekehrt.

Im Stuttgarter Schauspiel bietet ein anderer großer Greis, Claus Peymann, noch einmal alle tausendfach von ihm erprobten Überredungskünste einer aufgeklärten Regiekunst auf. Shakespeares "König Lear" enthält die bitterste Absage an die Mär von der überlegenen Weisheit des Alters.

"Die alte Welt ist närrisch!"

Einer bloßen Grille wegen opfert Lear seine Königswürde. Aus dem Bannkreis der Macht verbannt, erlebt er schmerzlich, wie der Solidarverband der Familie zerreißt. Sein Verstand trübt sich ein; er flieht die Gesellschaft der Menschen. Die reißen einander die Augen aus, weil es keinen Unterschied macht, ob man den Kollaps der geheiligten Ordnung mit eigenen Augen mitansieht oder nicht. Unrettbar verloren ist sie ohnedies. Lear fällt aus allen Wolken über Englands Heide, denn: "Die alte Welt ist närrisch!"

Sie war aber auch selten so linde, so betörend klar und wohltuend wie in dieser Stuttgarter Reminiszenz an das Peymann-Theater der 1970er-, 1980er-Jahre. Der Sturm auf der nächtlichen Heide ist noch einmal ein Kunststück aus der Wunderkammer Karl-Ernst Herrmanns (Ausstattung): Der Regen sprüht in anmutigen Fächern, das Donnerblech regt sich wie ein aufs Blut gereizter Lindwurm. In den Zuschauerraum hinein aber wölbt sich, wie eine durchscheinende Hand des Todes, eine schwarze Tuchbahn. Man kann das Elend mit Händen greifen, und doch ist es kunstgewerblich geläutert.

Zu diesem Zeitpunkt hat Schwab, dieser funkelnde Narr mit dem widerborstigen Haar, bereits eine Reise ans Ende der Nacht zurückgelegt. Die Namen seiner Töchter hatte er anfangs fein säuberlich in den Kreidepferch eingetragen, ein Buchhalter aus eigener Machtvollkommenheit.

"Die Jungen sollen an die Macht"

Im weißen Leinensmoking feiert dieser Lear das Los des hohen Alters als Kindergeburtstag: Wie sehr ihn jede seiner Töchter am meisten liebt, will er hören ("Die Jungen sollen an die Macht"). Die Reichsaufteilung soll passieren, nachdem er die weiblichen Sprösslinge nochmals rasch wie zu einem Foto gruppiert hat. Die Krone drückt er sich behaglich selbst aufs Haupt. Die angeordneten Schmeichelreden möchte er wie Schalen Milchreis zu sich nehmen.

Die Katastrophe ist unausweichlich. Goneril (Manja Kuhl) und Regan (Caroline Junghans) sind seidene Salonschlangen, die den unsichtbaren Baum der politischen Erkenntnis hüten. Das Küken Cordelia (Lea Ruckpaul) wird den greisen Toren als Handke deklamierender und Räder schlagender Narr hinaus in die stürmische Nacht begleiten.

Da ist es bereits vorbei mit der alten Herrlichkeit. Durch drei Glastüren fegt Balkanjazz, sobald Lear sich an seinem frühen Lebensabend zu amüsieren wünscht. Es schlägt bereits die historische Stunde der Edmunds (Jannik Mühlenweg): von "Bastarden", die Intrigen im Schlangenledersakko spinnen, als müssten sie besonders verruchte Geschicklichkeitsübungen absolvieren. Traumtänzer mit überschießenden kriminellen Energien.

In solchen Augenblicken kommt das Peymann-Theater ganz zu sich. Da kann es den Umschlag von mythischer Vorzeit in echten Fortschritt behaupten. Es nennt dann alle Schurken beim Namen und stellt die Verblendung der Mächtigen zu Demonstrationszwecken vorbildhaft aus: Seht her, der politisch schuldhaft sich verstrickende Mensch ist ein rechtes Rabenaas...

Die "Menschen an sich"

Es ist auch viel vom "Menschen an sich" die Rede in dieser Stuttgarter "Lear"-Fassung von Jutta Ferbers (nach Baudissin), vom gestirnten Himmel über den blinden, von ihren törichten Leidenschaften verzehrten Homines politici an der Epochenschwelle zur Neuzeit. Claus Peymann ist, aller Direktorenwürden ledig, endlich auf den Kant gekommen.

Er behauptet noch einmal mit schönem Ernst die Errungenschaften des ausgehenden 20. Jahrhunderts: die Bühne als semi-abstrakten Raum der Erkenntnis, als heilige Stätte des Mitleidens und Einfühlens. Und das klappt ganz famos, weil das Stuttgarter Ensemble Kontakt zur grauen Vorzeit hält – und doch auch schon die bürgerlichen Deformationen in die Figuren einarbeitet. Als Charakterscharten. Zu nennen wäre hier der Gloster von Elmar Roloff, der bereits einen tadellosen Musicus Miller in Schillers "Kabale und Liebe" abgäbe.

So aber ist Lear, dem verblendeten Greis, auf Erden nicht zu helfen. Im altmodischen Rollstuhl karren sie den Wahnsinnigen über die schwarze Scheibe namens "Erde". Er wird, den Leichnam seiner Jüngsten in den Armen, langsam zur Seite kippen und verlöschen. Die funkelnde, von ihm töricht weggegebene Krone aber war während der ganzen, bejubelten und auch sacht ausgebuhten Inszenierung an einem Haken über der Schlacht- und Schädelstätte gehangen. Der güldene Einsatz für ein Spiel, das Schwab und Peymann – nehmt alles nur in allem – recht eindrucksvoll gewonnen haben. (Ronald Pohl, 24.2.2018)