"Die Beste in ihrem Metier": die 1947 geborene Lydia Davis.

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Lydia Davis, "Samuel Johnson ist ungehalten. Stories". Aus dem amerikanischen Englisch von Klaus Hoffer. € 22,- / 216 Seiten. Hanser, München 2018

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Lydia Davis zu lesen bedeutet zuerst einmal, vor der Frage zu kapitulieren, was die Autorin da eigentlich tut: Diese brillanten Textfitzel, manche nicht länger als ein Halbsatz – sind das Kurzgeschichten? Anekdoten? Sinnsprüche? Gedankenprotokolle? Witze? Man weiß es nicht. Behelfsweise kann man über Kafka-, Beckett- oder Russel-Edson-Einflüsse sprechen, fest steht jedenfalls: Seit ihrer ersten Veröffentlichung 1976 erweitert Lydia Davis das Territorium der Prosa.

2013 hat sie dafür den Man Booker International Prize erhalten, seit 2008 übersetzt Klaus Hoffer in verdienstvoller Weise ihre Texte ins Deutsche – aktuell den Band Samuel Johnson ist ungehalten (original 2002) -, um ihren Ruhm auch hierzulande zu mehren. Völlig zu Recht: Zu sagen, Lydia Davis sei "die Beste in ihrem Metier", ist bloß deshalb nicht angebracht, weil sie ihr Metier erfunden hat und man Vergleichbares kaum finden wird.

Subtiler schwarzer Humor

Davis schreibt, so viel lässt sich sagen, kurze bis sehr kurze Texte von subtilem schwarzem Humor und einer gewissen intellektuellen Verschrobenheit: halb Elfenbeinturm, halb Vorstadthäuschen in Campusnähe. Immer wieder sezieren diese Texte das geistige Innenleben einer Hauptfigur, einer klugen, belesenen Frau mit allerdings nur geringer Eignung fürs Zwischenmenschliche.

Schritt für Schritt kann man hier jemandem beim Denken zusehen (ein nicht zu unterschätzendes Vergnügen!). Dabei führen die Texte vor, wie die Heldin ihren analytischen Verstand auf die alltäglichen Dinge richtet, den sozialen Zusammenhang in präzise Gleichungen zerlegt – und dabei gerade wegen ihrer glasklaren Schlussfolgerungen stets auf absurdes, latent amoralisches, mitunter hoffnungsloses Terrain gerät. Mit dem nötigen Scharfsinn, so macht es den Eindruck, findet sich überall eine schmerzliche existenzielle Pointe.

Da wird zum Beispiel ganz ungeniert erörtert, wie es kommt, dass man ein Buch besser behandelt als das eigene Kind, oder wie hoch jemandes Wert als Mensch, als Freund, als Partner zu veranschlagen wäre.

Erinnerungen

Eine Erzählerin überlegt, wie nützlich es wäre, fürs hohe Alter ein paar gute Erinnerungen parat zu haben. "Was mich beunruhigt, ist, dass ich mir nicht sicher bin, wie viele glückliche Erinnerungen ich haben werde. Ich bin nicht einmal sicher, was denn nun eine glückliche Erinnerung ausmacht" – eine harmlose Frage, auf die hin sie jedoch die Bedingungen für diese guten Erinnerungen herzuleiten beginnt, und am Schluss kann man zwischen tiefer Verzweiflung und trockenem Witz nicht mehr unterscheiden. Immer wieder stellt sich am Ende solcher Texte eine seltsame Ratlosigkeit ein, die im komischsten Verhältnis steht zu der geistigen Präzision, die dorthin geführt hat.

Anderswo betreibt Davis eine Art von hintergründigem literarischem Kannibalismus: Jedes mögliche Motiv, jedes Genre, jede Textsorte wird ihrem ganz spezifischen literarischen Modus einverleibt. Samuel Johnson ist ungehalten wartet dementsprechend mit einem Kriegsepos von einer halben Seite Länge auf, mit grammatikalischen Scherzen, Beschwerdebriefen, anrührenden Familien- und opferreichen Mordgeschichten, Parabeln, Übungsbeispielen aus Lesebüchern und so fort.

Unter anderem verunglimpft Davis genüsslich die Versatzstücke bürgerlicher Bildung. Diese Texte spielen sich quasi im Bücherregal ab, im Universum der kulturellen Überlieferung. Das ist der wichtigste, mitunter offensichtlichste und dabei keineswegs pfleglich behandelte Bezugspunkt bei Davis. Da findet sich etwa eine Romanbiografie Marie Curies – auf nur knapp über zwanzig Seiten (als einer der längsten Texte) -, die sich liest, als hätte ein Außerirdischer menschliche Sprachfragmente mit der Pinzette neu arrangiert.

Verfremdungseffekt

Dieser Verfremdungseffekt entfaltet seine herrlich respektlose Wirkung auch dann, wenn man nicht zufällig weiß, dass es sich tatsächlich um eine Parodie handelt – die Parodie einer Übersetzung nämlich, die Davis selbst von einer französischen Vorlage angefertigt hat. "Gewissheit von Herodot" heißt eine weitere dieser Exkursionen in die Wissenschaftsgeschichte, und der Text lautet in voller Länge: "Hier die Fakten über die Fische im Nil:" – Ende des Texts. So dezent, gleichzeitig so an- und umstandslos kann man einen Griechen von seinem verstaubten Podest kippen.

Ein Buch von Davis ist eine unerschöpfliche Fundgrube: an übermütiger Belesenheit, an intelligenter Komik, hinterhältiger Präzision. Kaum wo wird man auf eine solche Bandbreite treffen, kaum wo sich von Seite zu Seite so amüsieren. Davis zu lesen ist ein unschätzbares Vergnügen.

Eine Nachbemerkung: Bei einem der Texte im vorliegenden Band, so kann man im Anhang lesen, waren Übersetzer und Lektor der Meinung, dass er nur im Original funktionieren könne.

Die Autorin erwiderte, Hoffer solle einfach übersetzen – ohne Rücksicht auf den Inhalt. Das Ergebnis (der zweite Text im Band) ist nun eine Nachschöpfung, die mit dem Ausgangstext inhaltlich nur noch durch unterirdische Kanäle verbunden ist. Im Anhang kann man sie neben ihre Rückübertragung ins Englische sowie neben das Original halten und dabei seine Freude haben an diesem zugleich halsbrecherischen und skrupulösen übersetzerischen Manöver. (Bernhard Oberreither, Album, 25.2.2018)