Der türkische Expräsident Abdullah Gül übergab vor vier Jahren an Erdoğan.

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Er tritt an, er tritt nicht an, er schließt nichts aus. Wenn in der Türkei Wahlen näher rücken, taucht die Gül-Frage auf. Der elfte Präsident der Republik wärmt vielen im Land doch noch das Herz. Abdullah Gül ist der moderate, stets freundliche Konservative, ein Vertreter aus einer anderen Zeit. Dabei liegt sein Auszug aus dem Präsidentenpalast – der kleinen, von Atatürk genutzten Residenz in Ankaras Innenstadtviertel Çankaya wohlgemerkt, nicht dem neuen riesigen Palastkomplex von Tayyip Erdoğan – noch keine vier Jahre zurück.

Gewählt wird in der Türkei spätestens im November 2019 und in einem Aufwasch – Parlament und Präsident in einem. Danach tritt die Präsidialverfassung, die sich Tayyip Erdoğan schneidern ließ, offiziell in Kraft. Es ist nicht mehr Güls Türkei. Die beiden politischen Weggefährten von einst haben sich zu Beginn des Jahres erstmals öffentlich gestritten. Dass Gül die dauernde Verlängerung des Ausnahmezustands und Erdoğans Regieren mit Notstandsdekreten mit Unbehagen sieht, ist bekannt.

Im jüngsten dieser Dekrete sicherte der Staatschef all jenen Straffreiheit zu, die sich gegen die Putschisten im Juli 2016 gestellt hatten und gegen die "Fortsetzung des Terrors". Das kann man als Freibrief zur Selbstjustiz lesen. Gül mahnte eine Überarbeitung des Gesetzes an. Dass der ehemalige, als soft geltende Präsident bei dem über Twitter und kurze Kommentare geführten Schlagabtausch nicht gleich zurücksteckte, war bereits bemerkenswert.

"Kandidat des Konsenses"

"Abdullah Gül kann ein Kandidat des gesellschaftlichen Konsens sein", sagte nun ein türkischer Journalist, der den ehemaligen Staatschef in seinem Büro besucht hatte. Auch das ist so ein Detail, das Erdoğans Palastberater maßlos aufregt: Gül hat ein Büro im Istanbuler Finanz- und Businessdistrik Maslak angemietet. Der 68-Jährige hat etwas vor. Oder auch nicht. Oder er weiß es selbst noch nicht.

Die Umfragen sind jedenfalls nicht beruhigend für Tayyip Erdoğan, den Staats- und Parteichef. Die jüngste, am 22. Februar von dem Meinungsforschungsinstitut AKAM veröffentlichte, sagte der Regierungspartei den Verlust der absoluten Mehrheit im Parlament voraus, wären jetzt Wahlen. 40,2 Prozent für die AKP und 275 Sitze errechnete AKAM. Gemeinsam mit den Rechtsnationalisten der MHP käme Erdoğans Partei auf 45,2 Prozent. Auch das reicht nicht zum Regieren. Es wären 290 der – im neuen Parlament – 600 Sitze. Und sollte Abdullah Gül tatsächlich wieder in den Ring steigen und etwa eine eigene Partei gründen, eine Art neue AKP, dann kann das Tableau noch sehr viel ungünstiger für die politische Führung in Ankara aussehen.

Neues Wahlbündnis

Dabei hat Erdoğan gerade ein Wahlbündnis mit der MHP von Devlet Bahçeli, seinem Steigbügelhalter bei der Verfassungsänderung, finalisiert. "Cumhur İttifakı" heißt es – Republikblock oder Republikbündnis. Es soll der AKP die absolute Mehrheit sichern und hilft andererseits der MHP, die hohe Sperrklausel für den Einzug ins Parlament zu umgehen. Laut AKAM kämen die Rechtsnationalisten derzeit auf 7,3 Prozent. Auch die Umfrage eines anderen Instituts kam im Jänner zu einem sehr ähnlichen Ergebnis: 40,1 Prozent für die AKP, und die MHP gescheitert an der Zehnprozenthürde, sagte Sonar voraus.

Die prokurdische Minderheitenpartei HDP könnte trotz der massiven Strafverfolgung ihrer führenden Politiker wieder ins Parlament einziehen. Die neue "Gute Partei" der MHP-Dissidentin Meral Akşener käme auf 13 oder 14 Prozent, während die Sozialdemokraten in ihrem 25-Prozent-Turm blieben.

Natürlich gibt es ebenso viele Umfragen, die einen überragenden Sieg für Erdoğans AKP errechnen. Das muss schon deshalb so sein, um in dem stark kontrollierten Medien der Türkei gar nicht erst den Eindruck aufkommen zu lassen, Erdoğans Macht könnte auch ins Wanken geraten. Doch auch allen grundsätzlichen Zweifeln an den Umfragen zum Trotz scheint zumindest festzustehen: Ein eindeutiger Trend für die konservativ-religiöse AKP ist nicht zu erkennen, und ganz so leicht werden die Wahlen für Erdoğan aus jetziger Sicht nicht laufen.

Zwang zur "Absoluten"

Die absolute Mehrheit im Parlament braucht der autoritär regierende Präsident aber. Andernfalls – seine eigene Wiederwahl vorausgesetzt – müsste Erdoğan für gewisse Zeit mit einem von seinen Gegnern geführten Parlament leben, bis er dann vorgezogene Neuwahlen ansetzt.

Bei der Präsidentenwahl wiederum ist Erdoğan der Favorit. Die Wiederwahl glückt anders als 2014 erst in der zweiten Runde, so sagen die Umfragen. Meral Akşener gilt als starke Gegenkandidatin, aber ihre Unterstützung aus dem nationalistischen, konservativen und kemalistischen Lager reicht derzeit nicht aus. 18 Prozent werden ihr in der ersten Runde gegeben, 48,6 Prozent errechnete das Gezici-Institut im Dezember vergangenes Jahres für die Stichwahl.

Gegen Erdoğan verliert Akşener im Moment. Noch aber steht nicht fest, wer für die Sozialdemokraten der CHP ins Rennen geht oder ob die größte Oppositionspartei überhaupt einen eigenen Kandidaten aufstellt. Hier kommt Abdullah Gül erneut ins Spiel. Er könnte die Alles-nur-nicht-Erdoğan-Wahl der Türken sein.

Rückkehr eines Vergrämten

Der amtierende Staatschef weiß um dieses Risiko. Drei Stunden dauerte im vergangenen Jänner ein Gespräch, zu dem Erdoğan seinen früheren Außenminister und Regierungschef Ahmet Davutoğlu überraschend abends in den Präsidentenpalast eingeladen hatte. Auch Davutoğlu gehört zu den abgeschobenen Politikern der alten AKP.

Sinn der Audienz bei Erdoğan – hierin sind sich alle Beobachter einig – war, Abdullah Gül zu verhindern. Erdoğan bemühte sich ein wenig um Davutoğlu, seinen vergrämten früheren Vertrauten, um die Risse in der Partei zu kitten. Abdullah Gül soll dort keinen Halt finden, um ein Comeback zu wagen. Wenn er es denn will. (Markus Bernath, 23.2.2018)