Flüchtlinge aus Afrika landen auf Lesbos: Europas Bevölkerung wird sich in Zukunft daran gewöhnen müssen, auch Platz zu schaffen für jene, die aus weniger privilegierten Weltgegenden kommen.

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Joëlle Stolz: Neoprotestanten statt Muslimen.

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Jene, die unlängst in den sozialen Medien die Eltern des österreichischen Neujahrsbabys mit rassistischen Bemerkungen überhäuft haben, weil seine Mutter ein Kopftuch trug, sollten sich vorbereiten: Früher oder später wird das Neujahrsbaby schwarz sein. Denn eine "Begegnung" von erheblichem Ausmaß zwischen Europa und Schwarzafrika wird bald stattfinden.

In dreißig Jahren, warnt Stephen Smith in La ruée vers l'Europe. La jeune Afrique en route vers le Vieux Continent ("Ansturm auf Europa. Das junge Afrika auf dem Weg zum Alten Kontinent"; Grasset, 2018), könnten 150 Millionen Europäer afrikanischer Herkunft sein – Stand heute: neun Millionen. Es wäre naiv zu glauben, dass Länder ohne koloniale Vergangenheit in Afrika, wie Österreich, nicht betroffen wären. Dieses polemische, aber gründlich recherchierte Buch erscheint mitten in einer Debatte um ein kontroverses Gesetz der Regierung Emmanuel Macrons über Asyl- und Migrationsrecht.

Präzise Fakten

Der Autor, Amerikaner mit deutscher Mutter, kennt sein Thema: Seit 40 Jahren bereist er den Schwarzen Kontinent. Er hat fünf Jahre lang die Afrika-Abteilung von Le Monde geleitet (nach zwölf Jahren bei Libération) und lehrt seit 2007 an der Duke University in den USA als Professor für afrikanische Studien. Er nennt präzise Fakten, mit deren Hilfe wir Europäer unsere "Interessen und Ideale" sorgfältig abwägen können.

"It's the demography, stupid!", könnte der andere Untertitel des Essays lauten. Auf dem Umschlag sieht man ein nächtliches Satellitenbild zweier Kontinente, die die Geographie zusammengebracht hat: ein großes Afrika mit spärlichen Lichtern unter einem kleinen, aber hell leuchtenden Europa – in der Ära der Smartphones ein bemerkenswerter Kontrast.

Schwarzafrika ist die einzige Region der Welt, die ihren demografischen Wandel noch nicht vollzogen hat (sinkende Geburtenrate nach sinkender Kindersterblichkeit). Im Sahel ist sogar das Gegenteil eingetreten: In vier Ländern (Burkina Faso, Mali, Niger und Tschad) wird sich die Bevölkerung bis 2050 verdreifachen, und sie werden am härtesten von der Klimaerwärmung betroffen sein.

Der Kontinent explodiert

Demografisch gesehen explodiert Afrika gerade in der Zeit, in der es aus der bittersten Armut "auftaucht". Es hat heute 1,25 Milliarden Einwohner, 40 Prozent davon sind jünger als 15. Laut einer Gallup-Umfrage von 2016 träumen vier von zehn Afrikanern zwischen 15 und 24 Jahren davon auszuwandern. Bis 2050 wird Afrika noch eine weitere Milliarde zulegen, die Bevölkerung Europas hingegen auf 450 Millionen schrumpfen.

Gerade weil Afrika "auftaucht", wird ein Teil seiner Jugend die Reise in den Norden unternehmen. Nicht die Ärmsten, sondern diejenigen, die die finanziellen Mittel dafür aufbringen können und vor denen andere afrikanische Länder sich immer mehr verschließen. "Die erste Phase der Entwicklung ist immer eine Entwurzelung", meint Stephen Smith. Dieser Exodus dauert gut zwei bis drei Generationen. "Es ist das Dilemma, das wir erleben werden: Ab jetzt bedeuten gute Nachrichten aus Afrika schlechte Nachrichten für Europa."

Ein bezeichnendes Beispiel ist Mexiko, wo die positiven Folgen der Erdölpreiserhöhung in den 1970er-Jahren Millionen ermutigt haben, ihr Glück nördlich des Rio Grande zu suchen. Wie die Zentralamerikaner, die versuchen, Mexiko zu durchwandern, sind viele junge Afrikaner bereit, sich großen Gefahren auszusetzen. Für unsere auf "Vorsichtsmaßnahmen" fixierten Gesellschaften ist das reiner Unsinn. Aber, stellt Smith trocken fest, statistisch gesehen hat das Risiko, im Mittelmeer zu ertrinken, 2015 0,37 Prozent erreicht – viermal weniger als das Risiko für eine südsudanesische Mutter, bei einer Geburt zu sterben.

Viele wagen den Sprung, auch weil sie fest davon überzeugt sind, Gott werde sie beschützen. Alle, die sich in Europa vor den "fremden Werten des Islam" fürchten, müssen sich bald an eine ihnen völlig unbekannte Art des Christentums gewöhnen. Das schwarze Neujahrsbaby könnte ein Kreuz um den Hals haben, denn neoprotestantische Kirchen werden Teil unserer religiösen Landschaft.

Neue Kirchen als Modernisierungsturbo

Smith betont allerdings, dass die neuen Kirchen ein Modernisierungsturbo sind, da sie die typische afrikanische Gerontokratie – die Macht der Ältesten – auflösen, um jungen Leuten, auch Frauen, eine bessere Rolle zu geben. Verdienst wiegt mehr als Alter: eine Revolution.

In diesem Licht sollte man die sowohl geopolitische wie auch theologische Entscheidung analysieren, die Homoehe abzulehnen. Sogar die wohlwollende Aufnahme von Gays, jetzt offizielle Doktrin der etablierten Kirchen, kollidiert mit der afrikanischen Homophobie. Homosexualität ist dort sozial verpönt, wird sogar kriminalisiert. Aber die Usancen des Migrationslandes zeigen auch Wirkung: "Gastarbeiter" aus dem Maghreb, die nach Frankreich oder Belgien gingen, bekommen deutlich weniger Kinder als die Ägypter, die es eher in die Golfstaaten zieht.

Was tun? Stephen Smith kritisiert den "engelhaften Humanismus" der NGOs scharf, sieht es aber als genauso schädlich an, wahllos Flüchtlinge aufzunehmen oder die Festung Europa krampfhaft zu schließen. "Den Damm mit Eurobündeln zu stopfen", indem man der Türkei oder den libyschen Milizen Geld gibt, um Migranten zu stoppen, "verdirbt die europäischen Werte". Er warnt auch vor einem unheiligen Bündnis von Mafia und einer identitären, extremen Rechten, die in terroristische und rassistische Gewalt schlittern könnte, sollte sie an den Urnen scheitern.

Alarmsignale

Leider ist diese Variante nicht unwahrscheinlich. Alarmierend für viele ist das Attentat eines Neofaschisten, der Anfang Februar im italienischen Macerata schwarze Migranten schwer verletzt hat. Genauso wie der Umstand, dass die "Schwarze Axt", eine Gang, die Mitte der 1990er-Jahre in Benin City im Süden Nigerias schreckliche Gewalt entfesselte, seit gut zwei Jahren in Palermo aktiv ist.

Noch hat Europa Zeit, um sich Strategien zu überlegen. Das realistischere Szenario wird eher ein "Zusammenbasteln" durch ständiges Verhandeln sein: Die Schranke herunterlassen und Bedingungen stellen, bevor man sie wieder öffnet, hat Smith im Radio France Inter erklärt. Mal hoch, mal runter. Vor allem kein Mitleid (er beruft sich mehrmals auf Hannah Arendt). Rational bleiben, klare Regeln aufstellen. Als guter Amerikaner zweifelt er übrigens daran, dass Wohlfahrtsstaat und offene Gesellschaft gut zusammengehen: "Deswegen gab es in den Vereinigten Staaten nie eine echte soziale Sicherheit."

Was sicher ist: Die europäische Bevölkerung, die sich seit Jahrzehnten daran gewöhnt hat, am "richtigen" Ort der Welt geboren zu sein, und dieses Privileg genoss, muss nun Platz für andere machen. (Joëlle Stolz, 23.2.2018)