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Ruth Beckermann wurde der Glashütte Original Dokumentarfilmpreis verliehen.

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Adina Pintilie bekam den goldenen Bären für "Touch me Not".

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Berlin – Aus österreichischer Sicht begann die Preisverleihung der Berlinale Samstagabend mit einem Paukenschlag. Ruth Beckermanns vieldiskutierter Filmessay über die mediale Aufbereitung der Waldheim-Affäre von 1986, "Waldheims Walzer", wurde als bester Dokumentarfilm mit dem Glashütte-Original-Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet. Nach der Laudatio von Regiekollegin Ulrike Ottinger nahm die Wiener Filmemacherin den Preis mit einem Wort des Bedauerns entgegen: "Es ist schon ein Wermutstropfen dabei, dass etwas, das vor dreißig Jahren geschah, heute so aktuell ist."

Beckermann findet in der nicht allzu fernen Vergangenheit jene diskursiven Geschwader, die in der vom Rechtspopulismus umwölkten Gegenwart wieder Wirkkraft entfalten. Tom Tykwer, der Präsident der Wettbewerbsjury, schickte der Preisvergabe dagegen ein defensiv anmutendes Vorwort voraus. Nicht um das, was das Kino kann, sei es ihm und seinen Kollegen gegangen, sondern darum, wo es noch hingehen könnte. War dies ein Bekenntnis zu ästhetischer Erneuerung? Zu einer anderen Berlinale? Oder doch mehr ein Zeichen für die Verunsicherung durch Debatten wie #MeToo?

Mit dem Goldenen Bären für "Touch Me Not", den hybriden Debütfilm der Rumänin Adina Pintilie, zeichnete die Jury jedenfalls eine Arbeit aus, die niemand auf dem Radar hatte. In der von sexuellen Übergriffen erschütterten Branche scheint Pintilies gesprächsintensiver, repräsentationskritischer Ansatz tatsächlich wie eine aktuelle Auseinandersetzung mit den Unannehmlichkeiten der Intimität. Auf ineinander verschränkten Ebenen werden Personen therapeutisch an jene Schmerzgrenzen herangeführt, in denen eine Zuwendung als Übertritt empfunden wird.

Keine leichte Kost

"Touch Me Not" ist keine einfache Kinoerfahrung, bei der Pressevorführung verließen die Besucher den Saal in Scharen. Nicht was Pintilie zeigt, ist allerdings die so große Herausforderung – etwa einen SM-Swinger-Club, in dem ein körperlich behinderter Darsteller sexuelle Erfüllung findet -, sondern die Verdopplung des Gezeigten durch die sprachliche Nachbetreuung. Erst aufgrund der Reflexion erhält der Film seine stark instruktive Note. Man wird gleichsam bei der Hand genommen, um in klinischen Settings einem Belastungstest unterzogen zu werden, was die Empfindungsvielfalt anderer Menschen betrifft.

Eigensinnig zeigte sich die Jury auch darin, keinen deutschen Film auszuzeichnen, was angesichts eines besonders starken Jahrgangs besonders bedauernswert ist. Christian Petzolds Exildrama "Transit" beispielsweise, der Anna Seghers' gleichnamigen Roman in einem mutigen Schritt in eine geisterhafte Gegenwart überträgt, gehörte zu den Höhepunkten des Festivals. Die kühl-präzise Meisterschaft, mit der Petzold filmisch-souverän Wiederholungsmuster von Fluchterfahrungen variiert, wird aber hoffentlich auch ohne Preise noch belohnt.

Auch an Thomas Stubers schräg-verkorkstem Film "In den Gängen", der sich in Franz Rogowski mit Petzold den einprägsamen Hauptdarsteller teilt, ging Tykwers Truppe vorbei: Zurückgenommen, lakonisch im Geiste Aki Kaurismäkis entwirft Stuber auf dem nächtlichen Schauplatz eines Großsupermarkts ein Dramolett um Solidarität und Sehnsüchte unter Gabelstaplern. Die sonst so triste Arbeitswelt erscheint hier wie ein utopischer Ort; manchmal schallen Walzerklänge durch die Gänge. Der gebeutelte, schweigsame Held beginnt langsam zu genesen und entdeckt in der Süßwarenfee Marion (Sandra Hüller) eine Herzensverwandte.

Humoriger Exorzismus

Stattdessen wurde die Polin Malgorzata Szumowska mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet: Sie ist eine der Filmemacherinnen, die von der Berlinale schon länger aufgebaut wird. "Twarz" (Gesicht) erinnert ein wenig an "Johnny Handsome", den Walter-Hill-Film mit Mickey Rourke von 1989. Während der Held damals mit hübschem Äußeren eine neue Chance erhielt, wird in "Twarz" das Gesicht von Jacek (Mateusz Kosciukiewicz) durch einen Unfall entstellt. Für die abergläubige Dorfgemeinschaft ist der Bursche seitdem ein Monster, wenn sie nicht gar den leibhaftigen Teufel in ihm vermutet.

Szumowskas inhaltlicher Ansatz ist ziemlich offensichtlich. Was den Film jedoch auszeichnet, ist die trotzig freche Haltung, mit der er auf die Einfältigkeit der Dorfleute reagiert. Wenn einmal sogar der Exorzist gerufen wird, spielt der Held, ein großer Metal-Fan, bei dem absurden Schauspiel mit Freude mit – bis er irgendwann aufspringt und "Seid ihr komplett bescheuert?" ruft.

Grimmiger Humor

Ein Festivalstammgast ist auch der Russe Alexej German Jr., dessen Film "Dovlatov" für eine besondere künstlerische Leistung gewürdigt wurde. In kunstvoll orchestrierten Szenenbildern, die etwas von der Vielstimmigkeit eines Robert-Altman-Films entfalten, erzählt er von sechs Tagen im Jahr 1971, in denen sich die Literaten Leningrads, allen voran Titelheld Sergei Dovlatov, wachsender Restriktionen ausgesetzt sahen. Auch dies ein Film, der mit grimmigem Humor auf Zeiten der Erstarrung reagiert.

Asiatisches wie auch osteuropäisches Kino bleiben jedenfalls eindeutig Stärken der Berlinale, auf die man noch mehr bauen könnte. Das pessimistische chinesische Drama "An Elephant Sitting Still" von Hu Bo, das in vier Stunden ein Figurenensemble durchmisst, das nicht nur gegen institutionelle, sondern gegen alle sozialen Schranken anrennt, gehörte etwa zu jenen Forum-Filmen, die auch im Wettbewerb ein Signal gewesen wären. Dafür nämlich, wo es mit dem Kino wirklich hingehen könnte. (Dominik Kamalzadeh, 25.2.2018)