Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: Family Lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit familylab Österreich.

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Frage

Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Es fühlt sich an, als wäre Ihr Rat unsere letzte Hoffnung. Wir brauchen Unterstützung, wie wir mit unserem achtjährigen Sohn umgehen können. Wie er uns besser zuhören kann, besser versteht, was wir sagen, und er uns besser sagen kann, wie es ihm geht, was er mag und nicht mag. Es läuft oft auf lautes Schreien oder Bestrafen hinaus, und wir spüren, dass das überhaupt nicht richtig ist. Außerdem machen wir uns große Sorgen um sein Selbstgefühl – und das schon seit er sehr klein ist.

Unser Sohn reagiert auf vieles mit Zorn, sowohl verbal als auch physisch. Besonders dann, wenn es etwas Neues ist, das er nicht versteht, oder verwirrt ist, was wir meinen. Wir haben den Eindruck, dass seine Reaktion logisch ist, nur ist diese für uns unverständlich stark, und er verliert sich so sehr in seinem Gefühl.

Vor kurzem haben wir die Türen in unserem Haus ausgetauscht. Das war ein Riesendrama. Wir haben versucht, es ihm zu erklären. Erst nach der dritten Tür konnte er sich ein wenig beruhigen und akzeptieren, dass das notwendig ist.

Schnell in Rage

Bei jeder (für uns) Kleinigkeit gerät er in Rage, wenn er zum Beispiel etwas nicht findet, er etwas nicht machen möchte (auf Sportwoche mitfahren et cetera). Wir sind ständig mit Frustration, Ärger und auch großer Angst seinerseits konfrontiert. Wir machen uns auch viele Gedanken darüber, wie lange vorher wir ihn auf Neuerungen oder Ereignisse vorbereiten sollten, damit er sich besser zurechtfinden kann.

Er ärgert auch ständig seine kleine Schwester. Wenn wir ihn fragen, warum, sagt er, es ist lustig, wenn sie weint. Dabei fällt uns auf, dass wir viel mehr Energie in unseren Sohn stecken und unsere Tochter viel zurückstecken muss. Außerdem möchte er sehr oft Regeln ändern, egal ob das bei einem Spiel oder in der Schule ist.

Er hat auch so viele schöne Charakterseiten. Wir wohnen auf dem Land, und er ist viel in der Nachbarschaft unterwegs, kümmert sich um unsere älteren Nachbarn, beschützt seinen besten Freund und seine jüngeren Spielkameraden. In der Schule geht es ihm ganz gut. Länger still sitzen oder sich konzentrieren ist schwierig für ihn. Seine Lehrerin kommt gut mit ihm zurecht, wobei es in letzter Zeit immer häufiger vorkommt, dass er schnell ermüdet oder sich, wie in letzter Zeit, gegen den Turn- und Musikunterricht sträubt, obwohl er beides eigentlich sehr gern mag.

Wir wissen, dass es keine schnelle Lösung für unsere Situation gibt, aber wir hätten gern Hilfe dahingehend, wie wir mit den schwierigen Momenten der Wut und Aggression umgehen lernen, damit es uns allen besser geht.

Antwort

Danke für diese ausführliche und gute Beschreibung der Konflikte mit Ihrem Sohn. Bitte denken Sie beim Lesen meiner Antwort daran, dass ich mit meinen Vorschlägen auch falsch liegen könnte.

Mein erster Gedanke zu Ihrem Sohn ist, dass er ein besonderes Kinder ist – also sich von den meisten anderen Kindern unterscheidet. Ich denke, dass Sie in seinen ersten acht Lebensjahren eine wunderbare Mutter waren und er nun alt genug ist, um in den Fortschritt seiner Entwicklung miteinbezogen zu werden.

Es wird ihm nicht gelingen zu lernen, so wie viele andere Kinder angemessen zu reagieren, dennoch wird er mit seiner Art, wie er seiner Angst begegnet, umgehen lernen. Das wird vermutlich weitere acht Jahre dauern. Das wird harte Arbeit für ihn selbst, für seine Familie und auch seine Lehrerinnen und Lehrer. Aber es kann gelingen!

Gesehen und akzeptiert werden

Ihr erster Schritt: Besprechen Sie sich mit Ihrem Mann, und kommen Sie zu der Übereinkunft, dass ihr Sohn ist, wie er ist, und dass er sich nicht ändern wird, nur weil Sie es möchten. Wie bei allen anderen Kindern auch, ist für ihn das wichtigste Bedürfnis, gesehen und akzeptiert zu werden, wie er gerade ist.

Ihr zweiter Schritt: Sie alle setzen sich zusammen und sagen in etwa (in Ihren eigenen Worten): "Wir lieben Dich sehr, und wie Du weißt, gibt es Zeiten, in denen Du und auch wir nicht wissen, was wir tun sollen. So wie zum Beispiel mit den neuen Türen. Es geht uns in diesen Situation nicht gut, wie wir damit umgehen, also möchten wir Dich jetzt um Deine Hilfe bitten. Ist das okay für Dich?"

Indem Sie über sich selbst sprechen und um seine Hilfe bitten, passieren zwei Dinge: Sie geben Ihrem Sohn das Gefühl, wertvoll (und nicht ein Problem) zu sein, und Sie geben zu, dass Sie sich auch manchmal verloren fühlen. Es ist also mit anderen Worten ein Problem, das Sie alle miteinander teilen.

Großes Bedürfnis nach Sicherheit

Fragen Sie Ihren Sohn, ob er Ihnen ein oder zwei Beispiele nennen kann, in denen Sie etwas Falsches sagen – und was Sie anstatt dessen sagen können, damit es ihm leichter fällt.

Ihr Sohn mag vielleicht nicht sofort eine Antwort parat haben. So das der Fall ist, geben Sie ihm ein paar Tage Zeit, um darüber nachzudenken, und fragen sie danach erneut. Was auch immer geschieht, dies wird ein neues Kapitel in Ihrer Beziehung zu ihm einleiten. Auch Ihr Zugang bis zum nächsten Konflikt wird entspannter und offener sein.

Die Gesamtperspektive sollte sein, dass Ihr Sohn durch sein sehr großes Bedürfnis nach Sicherheit und Vorhersehbarkeit beeinträchtigt ist und ihm genau deshalb sein Leben mit anderen Menschen schwerfällt. Er möchte im Grunde "einfach" sein. Das, was ihm jetzt und für später hilft, ist, dass er mit der Zeit verstehen lernt, dass er ist, wie er ist, bevor er für sich die Möglichkeit zur Veränderung sieht. (Jesper Juul, 4.3.2018)