"Ich begegne regelmäßig Leuten in den sozialen Medien, bleibe aber immer höflich und hoffentlich konstruktiv. Kommt mir jemand mit Beleidigungen, ignoriere ich einfach, was er sagt", erklärt Philosoph Massimo Pigliucci.

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Epiktet, geboren um 50 nach Christus, Sklave, nach dem Tod Neros freigelassen, Gründer einer eigenen Philosophieschule, wichtiger Vertreter der späten Stoa. Andere wichtige Vertreter des Stoizismus sind Seneca und Marc Aurel.

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STANDARD: Vor rund zwei Jahren haben Sie einen Beitrag in der "New York Times" über Stoizismus geschrieben. Das Interesse war enorm. Daraus ist das Buch "Die Weisheit der Stoiker" entstanden. Wieso interessieren sich Menschen für eine 2000 Jahre alte philosophische Richtung?

Pigliucci: Ich war über die Reaktionen selbst überrascht. Ich dachte nicht, dass die antike Philosophie im Allgemeinen, geschweige denn eine, die so anspruchsvoll ist wie der Stoizismus, die Aufmerksamkeit der Menschen auf diese Weise erregen würde. Wenn die Öffentlichkeit an der Idee interessiert ist, genauer darüber nachzudenken, was sie tut und warum, und danach trachten will, ein ethischeres Leben zu leben, scheint dies ein uneingeschränktes Plus für die Menschheit zu sein.

STANDARD: Im Wörterbuch wird stoisch mit "unerschütterlich, gleichmütig und gelassen" übersetzt. Ruhen Stoiker tatsächlich so in sich? Man könnte doch auch folgern, dass ihnen vieles nur egal ist.

Pigliucci: Was Sie meinen, ist der moderne Sprachbegriff, nicht die Philosophie. Deshalb beziehe ich mich auf Stoizismus – die Stoische Philosophie – mit einem großen "S" statt einem kleinen "s". Stoische Philosophen sind sich sehr im Klaren darüber, dass die Menschen natürlich von Ereignissen erschüttert werden und dass es schwierig ist, Ruhe und Gelassenheit zu bewahren. Ein wichtiger Aspekt der Stoischen Philosophie ist vor allem ihr Kosmopolitismus, die Idee, dass wir alle Brüder und Schwestern sind und füreinander sorgen sollten. Und eine der vier Kardinaltugenden des Stoizismus ist die Gerechtigkeit, die anderen drei sind praktische Weisheit, Mut und Mäßigung. Das bedeutet, sich um andere zu kümmern.

STANDARD: Aber Sie zitieren den Stoiker Epiktet, der sinngemäß sagte, dass die Menschen "einen sonderbaren Hang haben, sich genau über Dinge Sorgen zu machen, die sie nicht kontrollieren können". Ist das nicht ein Rat zum Egoismus?

Pigliucci: Es gibt eine Verwirrung zwischen Dingen, die man kontrollieren kann, und Dingen, die uns selbst betreffen. Sie sind nicht dasselbe. Es gibt vieles, was mich betrifft, ich aber nicht kontrolliere – zum Beispiel eine Erkrankung. Epiktets Ratschlag besteht nicht nur darin, sich um sich selbst zu kümmern – er sagt sogar ausdrücklich das Gegenteil -, sondern besagt vielmehr, darauf zu achten, was du kontrollieren kannst.

STANDARD: Das bedeutet?

Pigliucci: Was wäre der tiefere Sinn, sich auf Dinge zu konzentrieren, die man überhaupt nicht kontrollieren kann? Man wäre einfach frustriert. Wenn du krank wirst, verschwende deine Zeit nicht damit, dass du dir Sorgen darüber machst, dass du krank geworden bist – sorge dich stattdessen darum, den besten medizinischen Rat zu bekommen, deine Medizin einzunehmen und so weiter. Was die Empathie anbelangt, so warnen viele neue Forschungsarbeiten vor einer zu großen Betonung darauf, da Empathie leicht für gemeine Zwecke manipuliert werden kann. Politiker machen das ständig. Der stoische Rat lautet, eine Art "vernünftige Empathie" zu entwickeln. Zum Beispiel ist es unmöglich, Empathie für Millionen von Menschen zu empfinden, die wir persönlich nicht kennen und die auf der anderen Seite der Welt verhungern. Aber der Verstand sagt uns, dass wir es sollten und dass es die richtige Art des Handelns ist.

STANDARD: Wie kann uns der Stoizismus heute helfen?

Pigliucci: In der gleichen Weise, wie er den Menschen vor 2000 Jahren geholfen hat. Ja, das moderne Leben bietet iPhones und Flugzeuge und soziale Medien. Aber grundsätzlich hat sich nicht viel für die Menschen verändert. Wir wollen die gleichen Dinge erreichen, wir haben Angst vor den gleichen Fehlern. Wir müssen immer noch mit Verlusten fertig werden, auf die Wut anderer Menschen reagieren, unsere Beziehungen pflegen und so weiter. Das sind alles Bereiche, in denen der Stoizismus sehr hilfreich ist, weil er Menschen beibringt, sich auf das zu konzentrieren, was in ihrer Kontrolle liegt, ihre Wut zu managen und sich weniger um die Meinungen anderer Leute zu kümmern, wenn diese offensichtlich völlig uninformiert sind.

STANDARD: Die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten hat viele Menschen entsetzt. Sie haben dazu geschrieben, seine Gegner sollten sich mehr auf jene Dinge konzentrieren, die sie in der Hand haben. Ist das ein guter Ratschlag?

Pigliucci: Viele meiner Freunde in New York verbrachten Tage und Wochen damit, aufgrund des Wahlergebnisses benommen und verwirrt herumzulaufen, und einige von ihnen sind immer noch in einer Art Starre gefangen. Als praktizierender Stoiker akzeptierte ich sofort, dass das, was passiert ist, passiert ist und es keinen Sinn hat, es zu bedauern oder sich selbst zu bemitleiden. Dafür ist weder genug Zeit, noch ist es hilfreich. Stattdessen begann ich, eine lokale "Widerstandsgruppe" zu organisieren, Informationen über bestimmte politische Aktionen mit anderen zu teilen, Märsche und Proteste zu koordinieren usw. Hört sich das so an, als würden ich mich hinhocken und abwarten?

STANDARD: In den sozialen Medien verbreiten sich Ärger, Wut und Hass. Wie soll man sich verhalten?

Pigliucci: Wer profitiert davon? Wollen wir in einer Welt des Ärgers, der Wut und der Beleidigungen leben, wie Sie es ausdrücken? Das glaube ich nicht. Es ist höchste Zeit für alle, sich zu beruhigen. Es liegt nicht in meiner Macht, andere Leute zu beruhigen. Aber ich kann den Ärger, die Wut und die Beleidigung für meinen Teil ablehnen. Genau das tue ich. Ich begegne regelmäßig Leuten in den sozialen Medien, bleibe aber immer höflich und hoffentlich konstruktiv. Kommt mir jemand mit Beleidigungen, ignoriere ich einfach, was er sagt. Mein Leben ist deshalb viel besser, und ich wette, dass sich auch das Leben aller Menschen verbessern würde, würden sie denselben Regeln folgen.

STANDARD: Aber werden wir nicht auch von starken Gefühlen wie Liebe und Hass geleitet?

Pigliucci: Im Stoizismus ging es definitiv nicht darum, die Emotionen zu unterdrücken. Vielmehr rieten die Stoiker dazu, das emotionale Spektrum irgendwie zu verschieben: sich von ungesunden und störenden Emotionen wie Wut und Hass zu entfernen und gesunde und konstruktive wie Liebe und Freude zu kultivieren. Es scheint mir genau die Art von Rat zu sein, den Ihnen Ihr persönlicher Psychologe geben würde. Tatsächlich steht auf der Website der American Psychological Association ein Abschnitt über Ärgermanagement, der sehr ähnlich klingt wie das, was der stoische Philosoph Seneca zu diesem Thema geschrieben hat. Ich denke nicht, dass das ein Zufall ist.

STANDARD: Aber kann sich eine Gesellschaft weiterentwickeln, wenn jeder nur auf das achtet, was er selbst kontrollieren kann?

Pigliucci: Von einem logischen Standpunkt aus ist es unmöglich, über Dinge, die wir kontrollieren können, hinauszugehen. Was der Stoizismus Ihnen sagt, ist: Wenn du versagst, musst du das Scheitern als Teil des Lebens akzeptieren und zum nächsten Projekt übergehen. Manchmal gewinnst du, manchmal verlierst du. Das scheint mir vernünftig zu sein.

STANDARD: Was ist Ihr persönlicher Lieblingssatz der Stoiker?

Pigliucci: Es gibt viele, aber ich finde diese Aussage von Epiktet sehr amüsant: "Ich muss sterben. Wenn schon jetzt, nun, dann sterbe ich eben. Wenn später, dann werde ich jetzt zu Mittag essen, da die Stunde zum Mittagessen gekommen ist." Es beginnt mit einer Bestätigung, dass wir alle Sterbliche sind. Für die Stoiker ist der Tod nichts, dass man fürchten muss, da er Teil des natürlichen Kreislaufs der Dinge ist. Wenn der Tod mir gerade nicht obliegt, dann habe ich andere Dinge zu tun, und ich konzentriere meine Aufmerksamkeit auf diese Dinge, damit ich sie auf bestmögliche Weise tun kann. Einschließlich der angenehmen, wie dem Mittagessen.

STANDARD: Tritt für Sie der Stoizismus an die Stelle der Religion?

Pigliucci: Es ist ein bisschen komplizierter. Wir brauchen alle einen Kompass, um durch das Leben zu steuern. Einige Ideen, die uns sagen, worum es bei der Sache geht und wie wir das Beste daraus machen können. Religionen sind eine Möglichkeit, dieses universelle menschliche Bedürfnis zu erfüllen. Philosophien wie Stoizismus sind ein anderer Weg. Ich finde Philosophien befriedigender als Religionen.

STANDARD: In den USA wird der Stoizismus gerade wiederentdeckt, wie sieht es hierzulande aus?

Pigliucci: Sagen Sie es mir! Vielleicht ändert dieses Interview die Dinge. Aber natürlich liegt das letztlich außerhalb meiner Kontrolle, und ich muss akzeptieren, ob das passiert – oder eben nicht. (Peter Mayr, 3.3.2018)