Mit einem umstrittenen Entwurf zur Änderung des Gesetzes über das Institut der Nationalen Erinnerung (IPN) hat Polen für Aufregung gesorgt. Diesem zufolge soll in Zukunft jegliche Zuschreibung der Mitverantwortung von Polen beziehungsweise der polnischen Nation am Holocaust mit einer Strafe von bis zu drei Jahren Gefängnis geahndet werden. Das Gesetz sorgt international für Irritation sowie diplomatische Verstimmungen zwischen Polen und Israel. Innerhalb Polens ist es der vorläufige Höhepunkt einer langen Debatte über das polnische Selbstverständnis als Opfer, Helden, und Täter – und den schwierigen Fragen nach den Graubereichen dazwischen.

"Polnische Todeslager" – Versehen oder Kalkül?

Die größten Vernichtungslager Nazi-Deutschlands wurden auf besetztem polnischen Gebiet errichtet, darunter Ausschwitz-Birkenau, Majdanek und Treblinka. In ihnen kamen nicht nur rund drei Millionen polnische Juden ums Leben, sondern auch zwei Millionen Polen. Der erste Zug nach Auschwitz verließ die südpolnische Stadt Tarnów am 14. Juni 1940, die Insassen waren vorwiegend polnische politische Gefangene. Es ist also wenig verwunderlich, dass das offizielle Polen ebenso wie seine Bürger empfindlich auf falsche Formulierungen wie "polnische Vernichtungslager" in westlichen Medien reagieren. Diese häuften sich beispielsweise rund um den 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Jahr 2005, und 2012 sprach Barack Obama ausgerechnet bei der posthumen Verleihung der US-amerikanischen Freiheitsmedaille des Präsidenten an den polnischen Widerstandskämpfer Jan Karski von "Polish death camps". Insgesamt hat das polnische Außenministerium seit 2008 in über 1200 Fällen solcher oder ähnlicher Formulierungen interveniert. So unglücklich diese auch sind, so sind sie wohl selten eine bewusste Provokation. Medien wie Personen entschuldigen sich zumeist umgehend und rechtfertigen sich häufig damit, sich lediglich auf die geografische Position der Todeslager bezogen zu haben. Vom rechten Rand einmal abgesehen, stellt niemand die historische Verantwortung Deutschlands – und, spät aber doch: Österreichs – für den Holocaust infrage.

Mit dem neuen Gesetz will Polen sich von der Mitschuld gesetzlich distanzieren. Im Bild: Auschwitz.
Foto: AP/Alik Keplicz

In Polen vermuten allerdings manche, darunter Politiker der rechtskonservativen PiS-Regierung (Prawo i Sprawiedliwość – deutsch: Recht und Gerechtigkeit), hinter solchen Formulierungen ein System und fürchten, dass sich durch deren Verwendung ein falsches, für Polen und dessen Nationalbewusstsein schädliches Geschichtsbild verbreiten könne. Ein jüngeres Beispiel für die Debatte ist der Rechtsstreit des polnischen Holocaust-Überlebenden Karol Tendera mit dem ZDF. Tendera verklagte im Jahr 2013 das ZDF, weil es einen historischen Film als Dokumentation über "polnische Vernichtungslager" bewarb. Er bekam in zweiter Instanz Recht und das ZDF entschuldigte sich im Dezember 2016 nicht nur per Brief, sondern auch offiziell auf seiner Homepage für die Verletzung der Persönlichkeitsrechte, insbesondere der Nationalidentität des Klagenden. Der Entschuldigungstext war allerdings nur schwer auf der Seite des ZDF auffindbar. Einer Gruppe von Aktivisten reichte diese Entschuldigung allerdings nicht aus. Sie rief die Aktion #GermanDeathCamps ins Leben und fuhr im März 2017 mit einer Werbetafel mit der Aufschrift "Death Camps Were Nazi German. ZDF, Apologize!" zur Sendestation des ZDF nach Mainz und weiter nach Brüssel. Anlässlich des Jahrestags der Befreiung von Auschwitz und auf das Urteil bezugnehmend, kündigte Justizminister Zbigniew Ziobro bereits Anfang vergangenen Jahres die bevorstehende Gesetzesreform an.

"Entgegen der Fakten?"

Das neue Gesetz wurde im Jänner 2018 vom polnischen Parlament beschlossen und Anfang Februar von Präsident Andrzej Duda unterschrieben. Bevor es in Kraft treten kann, muss es noch vom Verfassungsgerichtshof geprüft werden. Konkret sieht es vor, dass jegliche Zuschreibung der Verantwortung oder Mitverantwortung von polnischen Bürgern oder dem polnischen Staat am Holocaust "entgegen der Fakten" mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren zu ahnden ist. Kunst und Forschung sind ausgenommen, das Gesetz soll weltweit gelten. Damit geht der Gesetzesentwurf nicht nur weit über das vordergründig angestrebte Verbot der Formulierung "polnische Todeslager" hinaus, sondern wirft auch kaum zu beantwortende Fragen auf: Wer legt fest, ob etwas im Rahmen von Kunst oder doch außerhalb davon gesagt wurde? Wer informiert den polnischen Staat über Gesetzesverletzungen im Ausland, von der Möglichkeit deren Verfolgung einmal abgesehen? Wer sind hier überhaupt "polnische Bürger"? Gemeint sind Bürger der zweiten polnischen Republik (II Rzeczpospolita), die mitnichten homogen ethnische Polen waren. Und vor allem: Wer entscheidet, was "entgegen der Fakten" ist?

Die Deutungshoheit über die Geschichte ist in Polen ein sensibles Thema. Während manche Ereignisse immer wieder medial thematisiert und politisch instrumentalisiert werden – etwa die Teilung Polens im 19. Jahrhundert oder der Warschauer Aufstand gegen die deutsche Besatzung – so passiert die Aufarbeitung anderer Geschehnisse nur sehr zögerlich. Dazu zählen beispielsweise die Aktion Weichsel, in deren Rahmen zwischen 1947 und 1950 Ukrainer und Lemken aus dem Südosten der damaligen Volksrepublik zwangsumgesiedelt wurden, und eben auch die Kollaboration von Polen mit Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 2001 veröffentlichte der polnisch-amerikanische Historiker Jan Gross unter dem Titel "Sąsiedzi" ("Nachbarn") ein Buch über die Geschichte eines Pogroms im nordostpolnischen Dorf Jedwabne. Dort waren im Juli 1941 die jüdischen Einwohner des Ortes von ihren polnischen Nachbarn geplündert, in eine Scheune getrieben und verbrannt worden. Die Publikation stieß eine wichtige Debatte innerhalb Polens über die eigene Mittäterschaft, Opportunismus und Verdrängung an. Die Rede des damaligen Präsidenten Aleksander Kwaśniewski zum sechzigjährigen Gedenken gilt nach wie vor als Meilenstein; Jan Gross wurde für seine Arbeit mit dem Verdienstorden der Republik ausgezeichnet.

Eben dieser Orden soll ihm jetzt, wenn es nach Präsident Duda geht, aberkannt werden. Auslöser für die geplante Aberkennung war ein Kommentar von Gross in der deutschen Zeitung "Die Welt". In diesem schrieb er, sich auf den Historiker Marcin Zaremba beziehend, dass Polen während des Zweiten Weltkriegs mehr Juden als Deutsche ermordet hätten und warf ihnen die nach wie vor mangelhafte Aufarbeitung der eigenen Geschichte, insbesondere des Antisemitismus, vor. Im Oktober 2016 nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen Verleumdung auf.

Foto: APA/AFP/GIL COHEN-MAGEN

In Tel Aviv wurde gegen das neue polnische Gesetz demonstriert. Eine Holocaust-Überlebende hält ein Foto aus ihrer Schulzeit in Polen in die Kamera.

"Das gute Bild Polens" nach innen und nach außen

Damit bedient die rechtskonservative PiS eine Stimmung, die in Teilen der polnischen Bevölkerung durchaus verbreitet ist: Die Entschuldigung Kwaśniewskis ebenso wie die Arbeit von Jan Gross habe die polnische Ehre beleidigt und dem Ansehen Polens geschädigt. Die beiden seien, ebenso wie andere die Aufklärung und Aufarbeitung fordern, Verräter. Das neue Gesetz schlägt in eine ähnliche Kerbe. Die PiS versucht sich damit als Hüterin des guten Namens Polens nach außen zu positionieren. Das scheint allerdings im konkreten Fall misslungen zu sein. Der Gesetzesentwurf hat international durchwegs heftige Reaktionen hervorgerufen. Die "New York Times" bezeichnet ihn als "unnötig, dumm und beleidigend", israelische Regierungsmitglieder sprachen gar vom "Whitewashing der Geschichte" und einer "de-facto Holocaustleugnung". Auch innerhalb Polens wird das Gesetz durchwegs kritisch aufgenommen. Es besteht Sorge, dass das neue Gesetz die Grenzen des Sagbaren wieder verschieben und Antisemitismus und nationale Ressentiments (noch) hoffähiger machen und die wichtige Aufklärungsarbeit der letzten 15 Jahre wieder untergraben könnte.

Kritisches Nachfragen und Aufarbeitung werden durch das neue Gesetz wohl erschwert. Abseits des zu vermutenden populistischen Kalküls, gießt es nicht nur das polnische Selbstverständnis als ausschließliches Opfer in Gesetzesform, sondern behindert vor allem die ehrliche Auseinandersetzung mit der Geschichte. Zu einem selbstbewussten Umgang mit der Vergangenheit gehört eben nicht nur der berechtigte und wichtige Verweis auf das Leid und Heldentum unzähliger Polen während der Zeit des Zweiten Weltkriegs, sondern auch eine aufrichtige Haltung gegenüber jenen, die aus unterschiedlichsten Gründen keine Helden waren. Denn, wie es Jan Gross im Schlussplädoyer seines Buches formuliert, das Verdrängen wenig ruhmreicher Episoden der eigenen Geschichte, hindert eine Gesellschaft mitunter daran, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. (Clara Moder, 1.3.2018)

Clara Moder ist Universitätsassistentin (prae doc) am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Zivilgesellschaft, soziale Bewegungen, Demokratieforschung, Transformationsprozesse, Zentral- und Osteuropa. 

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