Es soll irgendwann wieder aufwärts gehen. Derzeit wirbt die SPD-Spitze für die Groko, die Jusos wollen ein Nein erreichen. Für diesen Fall, sagt die künftige Chefin Andrea Nahles (li.), habe sie keinen Plan B.

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Kevin Kühnert ist es gewohnt, dass ihm – wenn er seine Argumente vorträgt – immer nur ein Teil der SPD-Basis applaudiert. Derjenige natürlich, der so wie er den schwarz-roten Koalitionsvertrag ablehnt. Doch wenn der Juso-Chef zu einer bestimmten Passage in seiner Rede kommt, dann hat er stets den ganzen Saal in der Tasche.

"Ich darf uns mal allen gratulieren", ruft er in einem schmucklosen Saal in Ludwigsfelde. Die Kleinstadt im Süden Berlins ist wegen ihrer Nackttherme bekannt und weil der langjährige SPD-Bürgermeister wegen des Mordes an seiner Frau zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden ist – was bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hatte.

Aber das ist ein anderes SPD-Thema. Jetzt geht es um den Koalitionsvertrag, und Kühnert freut sich, dass die SPD jene Partei ist, die "am leidenschaftlichsten in ganz Deutschland über Inhalte diskutiert". Toll sei das, sagt er, "im Raumschiff Berlin führen wir eh viel zu viele Personaldebatten".

Der ganze Saal des Kulturhauses nickt und brummelt zustimmend. "Genau, wir haben noch Feuer", sagt ein älterer Herr und kichert. Aber das war's dann auch schon mit dem wohligen Wir-Gefühl und der Legende der Sozialdemokraten, die sich alle friedlich am Lagerfeuer versammeln und für die gemeinsame Sache singen.

Jubelschrei am Wahlabend

Denn nach Ludwigsfelde, zur Basis, ist nicht nur Kühnert gekommen, sondern auch SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Der ist von der anderen Seite, der will natürlich die Groko. "Ich stimme mit Ja, weil die Menschen von uns erwarten, dass wir ihr Leben konkret besser machen. Das gelingt mit dem Vertrag", wirbt er.

"Wisst ihr, wann ich zuletzt in unserer Partei einen echten Jubelschrei gehört habe?" fragt hingegen Kühnert und gibt gleich selbst die Antwort: "Als am Abend der Bundestagswahl klar war, dass wir in Opposition gehen werden."

Beide bekommen ungefähr gleich viel Applaus. Prognosen, wie der aktuell laufende Mitgliederentscheid tatsächlich ausgehen wird, wagt niemand in der SPD. Die SPD-Spitze hofft auf ein deutliches Ja zum Koalitionsvertrag, macht aber hinter vorgehaltener Hand auch klar, dass sie mit einem knappen Ergebnis leben und regieren kann.

Und wenn sich tatsächlich Kühnerts Linie durchsetzt und die SPD-Basis ihre Führung in Opposition schickt? "Ich persönlich will nicht über einen Ausgang mit Nein spekulieren. Einen Plan B habe ich nicht", sagt die designierte Parteichefin, Andrea Nahles.

In Ludwigsfelde steht jetzt Diskutieren auf dem Programm, wobei man weniger miteinander als nacheinander redet. "Keine Stimme für die Groko!", ruft Maja, eine junge Frau, und begründet das so: "Elendiglich" sei die SPD gegenüber der Union beim Familiennachzug für Flüchtlinge eingeknickt und daher die Zahl derer, die nach Deutschland nachkommen dürfen, ein Witz.

Kompromisse seit 150 Jahren

Traumatisierte Kinder würden ausgegrenzt, denn: "In dieser Regierung findet die SPD keine Stimme." Daher dürfe man gar nicht erst reingehen und koalieren.

Ingo, ein Mittfünfziger, sieht es anders: "Ein Wahlprogramm ist kein Koalitionsvertrag. Wer nur 20,5 Prozent der Stimmen geschafft hat, kann nicht alles diktieren." Überhaupt: "Wer grundsätzlich ein Problem mit Kompromissen hat, der braucht gar nicht erst in die Politik zu gehen."

Ihm pflichtet der ältere Olaf bei: "Wir Sozialdemokraten schließen doch seit 150 Jahren Kompromisse. Die Wähler erwarten Taten von uns, eine Partei kann man auch im laufenden Betrieb erneuern." Nachsatz: "Wenn das nur in der Opposition geht, müssten wir konsequenterweise auch aus allen Landesregierungen aussteigen."

Christoph, ein eher jüngeres Semester, findet daran Gefallen. Die SPD habe die Bürgerversicherung nicht bekommen, und dass die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen bloß von 24 auf 18 Monate gesunken sei, sei eine "grandiose Ungerechtigkeit". Sein Vorschlag: "Gehen wir in die Opposition und brandmarken wir die Union von dort aus als Menschenfeinde." Genau, findet Juso-Chef Kühnert: "Man muss nicht jeden schrägen Kompromiss eingehen." Und bei Neuwahlen erreicht die SPD dann 51 Prozent und setzt 100 Prozent aus ihrem Programm durch? Diese nicht ganz ernst gemeinte Frage stellt Generalsekretär Klingbeil und sagt: "Da fehlt mir ein bisschen der Glaube." Er weist auf die "Revisionsklausel" im Vertrag hin. Nach zwei Jahren, wenn es nicht laufe, könne die SPD ja aus der Koalition wieder aussteigen. "Ich trau uns diesen Mut nicht zu", erwidert Kühnert.

Zwei Herzen in der Brust

Die tiefe Zerrissenheit der Genossen ist auch draußen im Foyer zu sehen. Dort bilden sich die ersten Grüppchen und diskutieren bei Brezeln und Bier weiter. Horst, pensionierter Gastwirt und 21 Jahre SPD-Mitglied, regt sich über das Argument mit dem Familiennachzug auf: "Natürlich helfen wir auch Flüchtlingen. Aber zuerst geht es um die eigenen Leute. Die SPD sorgt dafür, dass wir mehr in der Tasche haben, da geh ich doch nicht wegen des Familiennachzugs in Opposition."

Seine Frau Inge hat lange überlegt, denn: "Zwei Herzen schlagen in meiner Brust." Jetzt aber hat sie entschieden: "Ich beiße die Zähne zusammen und stimme mit Ja. Als Sozialdemokratin würde ich lieber in Opposition gehen. Aber ich bin auch Bürgerin des Landes. Und als solche wünsche ich mir eine stabile Regierung."

Wahrscheinlich gibt es viele in der SPD, die wie Inge denken. Das Ergebnis des Votums wird am Sonntag bekanntgegeben. (Birgit Baumann aus Ludwigsfelde, 1.3.2018)