Vor den Versuchungen des totalitären Denkens gefeit: Ralf Dahrendorf (1929-2009).

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Franziska Meifort, "Ralf Dahrendorf. Eine Biographie". € 38,- / 477 Seiten. Verlag C. H. Beck, München 2017

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Bert Rebhandls Nachruf von 2009 im STANDARD enthielt folgenden Satz: "Dahrendorfs Denken war von einer Weite und Offenheit geprägt, die er als Wissenschafter und Intellektueller, als Politiker und Berater, als Europäer mit englischer und deutscher Staatsbürgerschaft beeindruckend lebte." So etwa ließe sich auch der Tenor von Franziska Meiforts Biografie über den großen Liberalen wiedergeben.

Geboren am 1. Mai 1929, dem "Tag der Arbeit", wuchs Ralf Dahrendorf zu einem "Arbeitstier" par excellence heran. Die Blitzkarriere in Stichworten: Zum ersten Mal promoviert mit 23 Jahren im Fach Philosophie, zum zweiten Mal mit 26 im Fach Soziologie und habilitiert mit 28. Der Professur für Soziologie an der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft folgten die in Tübingen und Konstanz, wobei das Konstanzer Gelehrtendasein durch sein Engagement für die FDP unterbrochen wurde, zunächst als Parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt, später als Mitglied als Kommissar der Europäischen Gemeinschaften. Vor allem wissenschaftliches Management schloss sich an, und zwar als Direktor der London School of Economics and Political Science und als Warden des Oxforder St. Antony's College. Schließlich oblag ihm eine Forschungsprofessur am Wissenschaftszentrum Berlin.

Aus erster Hand

Diese erste Biografie über ihn informiert chronologisch quellennah aus erster Hand. Der Sohn des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Gustav Dahrendorf geriet mit 15 Jahren durch das Verteilen von Flugblättern lebensgefährlich in die Fänge der Gestapo. Die Einzelhaft trug zu seinem lebenslangen Freiheitsdrang bei, zumal nach dem Zweiten Weltkrieg die Russen seinen Vater bedrängten, der Vereinigung von SPD und KPD zuzustimmen, und ihn, den Sohn, für Spitzeldienste gewinnen wollten. Dahrendorf gilt als Repräsentant der 45er-Generation, deren Blick nach vorn gerichtet war, nicht auf die Aufarbeitung der leidvollen Vergangenheit, und gen Westen. Allerdings bleibt der Generationenbegriff bei Meifort recht blass. Was verbindet diese Generation, und was hebt sie von anderen Generationen ab?

Die Autorin, von einer Apotheose gleich weit entfernt wie von einer Apologie, schreibt mit großer Empathie. Meifort versteht es, Dahrendorfs vielfältige Aktivitäten in der Wissenschaft (mehr als 30 Monografien), der Publizistik und der Politik zu verzahnen. Sie bringt "blinde Flecken" zur Sprache, etwa Dahrendorfs ungezügelten Ehrgeiz, der zuweilen die Grenzen der Gesundheit durchbrach. Der Gelehrte, von 1988 an auch britischer Staatsbürger, war zeit seines Lebens ein unerschrocken-streitbarer (Frei-)Geist, der Kontroversen schon vor seiner Professur nicht aus dem Weg ging.

Lebenselixier: Konflikte austragen

In seinem wohl wirkmächtigsten Buch über Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, dem Meifort als einzigem Werk ein eigenes Unterkapitel widmet, stellt Dahrendorf auf das traditionelle Demokratiedefizit ab. Dem Gelehrten lag vor allem daran, den Gegensatz zu "dem Westen" und die Hemmnisse für den demokratischen Verfassungsstaat herauszustellen. Das liberale Prinzip habe in Deutschland nicht Fuß gefasst. Dahrendorf würde heute über die grassierende Konsenskultur mit ihren nachteiligen Folgen für die gesellschaftliche Offenheit und die Lebendigkeit der Debatten ätzen. Das Lebenselixier der Demokratie besteht darin, Konflikte nicht unter den Tisch zu kehren, sie auszutragen und dabei jeder Form der Illiberalität zu entsagen.

Anspruchsvolle Texte, jeweils unprätentiös präsentiert und oft essayartig gehalten, erschienen en masse. Mit einem Höchstmaß an Disziplin ausgestattet, brachte er es zuweilen auf 20 Seiten am Tag – getippt auf einer mechanischen Schreibmaschine, bis zum Schluss. Die Kehrseite: Die "eher temporäre Konzentration im Sinne eines 'Schreib-Flows' [mag] es ihm erschwert haben, später ein großangelegtes, gar mehrbändiges Hauptwerk zu verfassen, an dem er über einen langen Zeitraum kontinuierlich gearbeitet hätte".

Leichtfüßiger Stil

Dahrendorf machte allmählich zwei politische Wandlungen durch: Im Laufe der 1950er-Jahre vom Sozialdemokraten zum (Links-)Liberalen (bedingt u. a. durch seinen längeren Aufenthalt in Großbritannien), und in den 1990er-Jahren nahm sein Liberalismus konservative(re) Züge an. Das Festhalten an Institutionen wie dem Oberhaus – der Life Peer sperrte sich gegen Reformen in eigener Sache – war ihm wichtig. Der Kosmopolit blieb vor den Versuchungen totalitären Denkens gefeit. In seinem letzten größeren Werk ist die Rede u. a. von Raymond Aron, Isaiah Berlin und Karl R. Popper, welche die Demokratie engagiert verteidigt hatten. Auch wenn er dies in Abrede stellte: Wollte Dahrendorf, keineswegs frei von Eitelkeit, auch sich damit ein Denkmal setzen?

Die Biografie, das merkt der Leser ihr nicht an, ist aus einer geschichtswissenschaftlichen Dissertation hervorgegangen. Die in einem leichtfüßigen Stil verfasste Studie über den transnationalen Intellektuellen – als Wissenschafter, Publizist, Politiker ein Tausendsassa – ist zu Recht bei einem Publikumsverlag erschienen. (Eckhart Jesse, 3.3.2018)